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Archiv-Artikel

Panzer aus Weißblech

Wie der bevorstehende Irakkrieg, das unselige Dosenpfand und ein klassisches Gleichnis über zwei Wiesel auf einer Parkbank die Menschen an einem Imbiss am Columbiadamm zusammenrücken lassen: Ein paar Einblicke in Neuköllner Lebenswelten

von ULI HANNEMANN

Die Sonne scheint dieser Tage schon wieder ein bisschen länger – das ist im Grunde der einzige Trost, und auch der ist nur einem Trugschluss geschuldet, denn untergehen wird sie am Ende doch. Wir werden alle untergehen. Die Menschen diskutieren über den Krieg und das Dosenpfand. Was ist schlimmer? Was ist ungerechter? Wer ist schuld? Schwer zu sagen, wenn man so weit ab vom Schuss ist. Wir kleinen Leute, wir können das mit dem Krieg doch im Grunde gar nicht richtig beurteilen. Wir kennen die Beweise nicht. Hat Saddam noch pfandfreie Bierdosen gebunkert oder nicht?

Auch an der Brutzelbude am Columbiadamm diskutieren die Menschen. Einen Vorteil hat das Dosenpfand ja: Die Menschen sprechen wieder mehr miteinander. Sie sind enger gerückt, die Not schweißt sie zusammen. Ein älteres Paar, einfache und ehrliche Leute, unterhält sich mit der Imbissfrau über das Dosenpfand. Gleichmäßig wogen die Argumente hin und her, die Diskutanten geben sich große Mühe, gerecht zu sein: „Man weeß ni so rescht“, sagt der Mann, „könnte ooch sein, dit fileisch, oda nee, ni so rischti.“ „Nee“, setzt die Frau vorsichtig entgegen, „so rischti isset ooch ni, nee, weeß icke.“ „Weeß icke“, stimmt der Mann zu – in diesem Punkt scheinen sie einer Meinung zu sein.

Wer weiß, vielleicht kannten sich die beiden vor zehn Minuten noch gar nicht, aber mittlerweile setzen sie schon völlig synchron die Kindl-Dosen an, als lägen mindestens dreißig gemeinsame Jahre hinter ihnen. Eine Vertrautheit, dem Dosenpfand verdankt, Trittin als geistiger Kuppler unzähliger Ehen im Sehr-Durstigen-Milieu – endlich haben auch eher schüchterne und karge Naturelle ein gemeinsames, ein Sinn stiftendes Gesprächsthema gefunden. Das hätte der Krieg niemals vermocht. Krieg ist kein gutes Thema. Zu sinnlos.

Ich möchte das einmal mit folgendem kleinem Gleichnis belegen: Zwei Wiesel sitzen auf einer Parkbank. Nach einer Stunde steht ein Wiesel auf und geht weg. Neben der Bank liegen zwei kaputte Umweltsäckchen im Schnee. An einem davon klebt Blut, könnte aber auch rote Farbe sein oder Tomatensaft. Was möchte uns dieses Gleichnis sagen? Nun, es ist völlig sinnlos – genau das versucht es uns mitzuteilen: Alles ist völlig sinnlos – egal von welcher Seite man es betrachtet. „Leute“, will das Gleichnis vermitteln, „lasst euch nicht durch die Sonne täuschen! Sie gaukelt eine Helligkeit vor, die es in Wahrheit so nicht gibt! Nachher geht sie unter, und dann ist es dunkel! Das Dosenpfand ist nur ein Vorbote des Krieges! Bald kostet der Diesel einen Euro zwanzig! Hoppe, hoppe, Reiter, wenn er fällt, dann schreit er! Wir werden alle sterben!“

Die Imbissfrau sagt, dass man die Originalrechnungen behalten muss. Sonst hat man 4.000 Dosen Cola gekauft und steht dann blöd da. „Steuerberater“, sagt sie und aus ihrem Mund klingt das so ähnlich wie „Sterberatte“. Das Paar nickt höflich und schweigt. Sie verstehen die Herangehensweise der Imbissfrau nicht. Sie verstehen die Imbissfrau überhaupt nicht: Sie hat einen starken slawischen Akzent, weder Polnisch noch Russisch – das könnte ich zuordnen –, sondern eine andere, mir weniger geläufige Sprache.

Ich kann also nicht genau sagen, ob die Imbissfrau diesen Zettel mit unterschrieben hat, wo draufstand, dass wir alle zusammen feste beim Krieg helfen müssen. Das Paar gibt die leeren Dosen synchron bei der Imbissfrau ab. Sie wissen nicht, dass sie mit ihrem Trinkverhalten den Krieg finanzieren – oder wozu soll das Dosenpfand sonst gut sein? Bald werden wieder Panzer rollen, aus Weißblech, und Tod und Verderben nach Osten tragen. Nicht nach Polen oder Russland – das könnte ich zuordnen –, sondern irgendwo noch ganz viel weiter: Jerusalem, Iran, Irak, Schimmerland – „weeß icke“.

Das Paar verabschiedet sich und geht. Ich hatte zuvor in einem Café gesessen und der trügerischen Sonne zugeschaut. Neben mir jammerte mein Begleiter über die Dieselpreise, und am Nachbartisch saßen junge Leute, gut angezogene, scheinbar hoffnungsvolle Theatermenschen, wie ich den herüberfliegenden Gesprächsfetzen entnahm, und tranken am hellichten Nachmittag so zügig wie zügellos Bier und sogar Schnaps in sich hinein. Das hat mir mächtig zu denken gegeben: Wenn übermorgen der Krieg anfangen würde, hätte ich das nämlich genauso gemacht. „Offenbar wissen die mehr als ich“, habe ich gedacht. „Sterberatte“, habe ich gedacht. In dem Moment habe ich dann das Gleichnis mit den Wieseln ersonnen, bin aufgestanden und gegangen.