Meine Abenteuer in der Wirklichkeit

„Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sollten zufällige sein – ich lachte nicht schlecht“: Joachim Lottmann lieferte 1987 mit „Mai, Juni, Juli“ die Blaupause für die Popliteratur. Nun erscheint der lange vergriffene Roman neu. Der Autor erinnert sich

Böll mochte meine talentfreie Art des Erzählens, die auchdie seine war

von JOACHIM LOTTMANN

Nach Köln kam ich erstmals (für eine Nacht und einen Tag) 1980, um Herbert Grönemeyer zu besuchen, dessen Frau Anna mit meiner Frau Kirstin befreundet war. Ich fühlte mich erschlagen von dem Verkehrsinfarkt, der Oktoberfest-Stimmung in der aus allen Nähten platzenden, weil eigentlich dörflichen Millionenstadt. Herbert sang drei Stunden lang seine (noch unbekannten) Lieder, zum Guten Gespräch kam es nicht. Die Lieder fand ich peinlich, wie Karaoke oder Amateur-Strip. Ich dachte damals noch, er sei ein ganz normaler Typ wie wir. Kein Grund, sich so zu produzieren.

Inzwischen sehe ich das anders und verehre Grönemeyer. Aber damals, in dieser Nacht, dachte ich zum ersten Mal, hier würde ein Buch fehlen, nach dem Motto meines Chefredakteurs Hans-Herrmann Tiedje: „Schreib’ das auf, Lottmann!“ Ich war zwar nur wenige Wochen bei der Bild-Zeitung gewesen, hatte dabei aber eine Erfahrung fürs Leben gemacht: Man kann ja alles aufschreiben! Und es wird gedruckt! Zum Beispiel meine Abenteuer im „Sex-Seminar“ beim „Sex-Guru Bhagwan“. Ich schrieb, was war. Alles stimmte. Blutjunge Mädchen in Extase, ich musste nichts erfinden. Ich konnte auch 256 Seiten einfach so weiterschreiben, davon waren alle überzeugt.

Und so bekam ich einen Romanvertrag von Kiepenheuer & Witsch, eine Wohnung am Ort des Geschehens (Köln) und Geld satt. Ich sollte fünf Seiten pro Tag schreiben und in drei Monaten liefern. Das war sechs Jahre später, im Mai 1986. Ich saß in der Wohnung der physisch attraktiven und geistig radikalen Feministin und Vaginale-Mitbegründerin Kathrin Kaluza (sic!), in der auch ihr boy friend Helge Malchow Überflugrechte besaß. Der stand immer mal wieder hinter mir und sah mir fassungslos beim Schreiben zu. Genau gesagt: immer wenn er von der Arbeit kam.

Ich war schon als Neunjähriger textsicher gewesen und als Wunderkind herumgereicht worden. Alles, was ich schrieb, ging ohne ein Komma zu ändern in Druck. Malchow faszinierte das. Meistens legte er mir einen Umschlag mit frischen Banknoten neben den lautlos arbeitenden, nagelneuen Würfel-Mac. Er war mein Lektor. Das Projekt war relativ geheim. Nur die Verlagsoberen sowie Günter Wallraff und Heinrich Böll waren eingeweiht. Wallraff schätzte meine subversive Arbeit, die ich bei der Bild-Zeitung geleistet hatte. Damals gab es noch richtige Druckereimaschinen bei Springer, und ich lief da nachts rum und änderte unbemerkt die Texte.

Böll mochte meine talentfreie Art des Erzählens, die auch die seine war. Zumindest mein Lektor aber wusste, dass es Probleme geben würde. Unter der Überschrift „Das ist keine Literatur“ kursierte eine Unterschriftenliste unter den Kiwi-Autoren, die das Buch verhindern wollten. Eigentlich wollte es niemand. Auch der Lektor bekam verständlicherweise Angst. Es war Diedrich Diederichsen, dessen große Autorität man sich heute nicht mehr vorstellen kann, der das Projekt schließlich brachial durchsetzte. Das war einer, der zur Not noch richtig schreien konnte. Herbert Wehner lebte noch, Augstein, Strauß, und eben der Pop-Papst Diederichsen: Die Zeit der großen Männer, die sagten, wo’s lang geht, war noch nicht vorbei. Leider hatte ich selbst unter meinen Freunden mehr Gegner als Befürworter für das Projekt. Dieselben Leute, die sonntäglich in meiner Wohnung Diedrich zuhörten, wie er aus meinem Tagebuch vorlas, fürchteten sich nun vor einer Veröffentlichung. Vor allem die inzwischen selbst Berühmten.

Rainald Goetz versuchte damals, eine der Vorablesungen zu sprengen. Mit manischen kleinen Augen durchbohrte er das Publikum: „Ollawei derselbe Schmarrn!“ Angeblich ging ihm das alles schon lange auf die Nerven; es ist ihm zu glauben. Und Clara Drechslers Verzweiflung war nicht gespielt, als sie fast theatralisch ausrief: „WARUM HAST DU DAS GESCHRIEBEN?“ Sie verstand es nicht.

Martin Kippenberger dagegen bewunderte meine Art zu schreiben geradezu hemmungslos. Niemals sonst hat es eine Bewunderung dieses Ausmaßes gegeben. Er gab Geld, Räume, Menschen, Möglichkeiten. Einmal sagte er fast traurig: „Du bist wichtiger als ich.“ Er fertigte sogar diverse Plakate für das Buch an, um den Verkauf zu steigern. Erklären konnte er seine Wirkung nicht. Als später Christian Kracht mit einer Kopie von „Mai, Juni, Juli“ triumphal als Begründer der deutschen Popliteratur gefeiert wurde, rief er mich mit belegter Stimme an; ich glaube, er hatte geweint. Worin also bestand die Wirkung?

Von Anfang an bestand der Trick darin, sich so extrem eng und hyperreal an die Wirklichkeit zu halten, dass jeder dachte, es sei einfach nicht wahr. Dieses beschriebene Leben war zu gut, zu aufregend, zu sexy, als dass es wahr sein konnte. Die Leser selbst lebten in öde ausgehandelten „Zweierbeziehungen“ und vertaten ihre Zeit mit den Praktikabilitäten des Alltags. Sie holten für ihre Freundin ein Schrankeinlege-Set von Ikea ab, bis der Tag vertan war.

Doch dann lasen sie „Mai, Juni, Juli“ und rissen die Augen auf: Dort stand ihr Ikea-Besuch, aber als funkensprühender LSD-Trip. Alles stimmte, auch das allerkleinste Detail, das machte die Leute fast fertig. „Sehen lernen“, sagte der damals noch junge Bazon Brock dazu. „Hören lernen“, fügte ich hinzu. Denn ich schrieb nicht nur jeden Tag zwei Notizblöckchen mit Mikrobeobachtungen voll, sondern nahm auch die Dialoge der Protagonisten mit einem im Jackett versteckten Tonband auf. Es war die größte je gewagte Indiskretion.

Die Leute hassten mich. Einmal ging es so weit, dass ich beobachtete, wie ein bekannter Szenemensch einem anderen 50 Mark buchstäblich aus seinem Portemonnaie STAHL. Ich schrieb es akribisch auf. Der Typ wechselte später immer die Straßenseite, wenn er mich sah. Es handelte sich aber nicht um Michael Grundmann, mit dem ich zeit meines Lebens befreundet blieb, auch wenn der mit dem Verdacht lebte, „Hans-Herrmann Klarczyck“ zu sein. Diese Figur war die einzige, die ich mir ausgedacht hatte: mein Alter Ego.

Um das Buch durchzusetzen, tat ich etwas, das noch kein Autor vor mir gewagt hatte: Ich fuhr zur großen Konferenz der Buchvertreter. Das waren die Typen, die quer durch Deutschland alle kleinen Buchgeschäfte abklapperten und denen die Kiwi-Bücher aufschwatzten. Mein Lektor hielt vor 500 dieser Vertreter, neben mir sitzend und immer mit dem Finger auf mich zeigend, eine wohl historische Rede, sprach damals schon vom Beginn einer neuen Literatur. Ich prüfte nach, ob die Schlapphüte wirklich spurten, und fuhr nach Paderborn zu einer Musterlesung. In der ganzen Stadt stapelte sich mein seltsam gestreiftes Buch in den Eingängen und Schaufenstern der Buchgeschäfte. Natürlich musste man Kompromisse machen. So wurden viele Stellen wenigstens nachträglich „fiktionalisiert“. Da ich mich weigerte, mein Konzept zu verwässern, übernahm Diederichsen den undankbaren Stoff. Namen wurden erfunden, blonde Frauen in brünett umgefärbt, Clara Drechsler hieß plötzlich anders, und auf dem Cover stand nun „Roman“.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sollten zufällige sein – ich lachte nicht schlecht. Tatsächlich war alles die reine Wahrheit gewesen. Wer einen dunkelgrünen Opel Vectra 1.3 i fuhr, fuhr im Buch doch keinen Mercedes, sondern genau das. Es tat schon weh, dass Diedrich ihn in himmelblau umspritzte. Im Blue Shell tönte später Lothar Gorris, er sei das nicht, er fahre doch kein blaues Auto. Das war der Sinn der Übung. Trotzdem fühlte sich eine ganze Schicht von Kulturtreibenden angegriffen.

Als ruchbar wurde, dass mein zweites Buch die Kölner Kunstszene aufs Korn nahm, kam es endgültig zum Aufstand. In brutalstmöglicher Direktheit wurde gefordert, Lottmann müsse die Stadt verlassen. Man verwies auf den Kölner Fußballspieler Toni Schumacher, der zur selben Zeit ein skandalöses Buch geschrieben hatte und in die Türkei abgeschoben wurde. Tatsächlich hat es trotz brillianter Verkaufszahlen keinen Nachfolger für „Mai, Juni, Juli“ gegeben.

Als ein Jahr später die Mauer fiel und die 80er-Jahre inklusive Everything-goes-Lebensgefühl vorbei waren, hatten die Intellektuellen dann andere Themen. Erst 15 Jahre später wurde das Buch neu entdeckt, nämlich in dem Moment, da das Zeitalter der Popliteratur vorbei war. Stichwort elfter September. Nun gilt es als Klassiker, es regnet Ehrungen, alle Gegner von einst sind Freunde geworden. Wenn ich Anfang März nach Köln komme, werde ich mich bestimmt wie der 80-jährige Buddenbrooks-Autor fühlen, als er 1955 in Lübeck plötzlich zum Ehrenbürger geschlagen wurde!

Joachim Lottmann, 45, lebt als Schriftsteller in Berlin. Die Neuausgabe von „Mai, Juni, Juli“ erscheint als Taschenbuch im Verlag Kiepenheuer & Witsch, hat 256 Seiten und kostet 9,90 €