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Archiv-Artikel

Überall Narzissmus

Eine fragwürdige Psycho-Analyse des apokalyptischen Terrorismus: Wolfgang Schmidbauers Buch über Selbstmordattentäter

von MARTIN ALTMEYER

Gibt es so etwas wie ein generelles Profil des Terroristen, eine universelle Psychodynamik des Selbstmordattentats? Lassen sich für die subjektiven Motive der Täter Erklärungen finden, die tiefer reichen als die gängige Theorie vom „Kampf der Kulturen“ (der Religionen, der Ideologien, der Systeme) – oder die These vom Terrorismus als „der Waffe der Schwachen“.

In einer Flut von Aufklärungsliteratur zum Thema fällt das Buch von Wolfgang Schmidbauer auf „Der Mensch als Bombe. Eine Psychologie des neuen Terrorismus“. Der Autor ist ein Psychoanalytiker, der regelmäßig und seit Jahrzehnten (wie hierzulande nur noch Horst-Eberhard Richter) psychoanalytische Einsichten und Konzepte verwendet, um mit dem Zeitgeist Schritt zu halten. Er macht uns dabei nicht nur die Welt verständlicher, sondern klärt uns auch über uns selber auf. Schon vor dreißig Jahren gehörte sein Buch über die „hilflosen Helfer“ zur Pflichtlektüre einer ganzen Generation von Psychotherapeuten und Sozialarbeitern. Sein neuestes Werk ist nun dem Versuch gewidmet, mit den Mitteln einer angewandten Psychoanalyse zu ergründen, warum Menschen für ihre Sache nicht nur andere Menschen töten, sondern selber bereitwillig, wenn nicht gar freudig in den Tod gehen.

Und Schmidbauer präsentiert gleich auf der ersten Seite seine Tiefendiagnose. Verantwortlich sei: der „explosive Narzissmus“. In den Ereignissen des 11. September 2001 erkennt er die Spitze eines psychopathologischen Eisbergs von universellem Ausmaß, dessen eigentliches Bedrohungspotenzial noch unter der Oberfläche des Weltgeschehens verborgen liegt. Der Terrorist sei „das in die Welt entlassene, in ihr agierende Größenselbst“, seine Tat könne man als Ausdruck einer „narzisstischen Explosion“ verstehen.

In mehreren Kapiteln rekapituliert der Autor sein Modell der narzisstischen Störung und stellt noch einmal die metaphorisch aufgeladenen Narzissmusvarianten vor, die wir aus seinen früheren Büchern schon kennen: den „pharisäischen“, den „kannibalischen“ und den „parasitären“ Narzissmus. Mit dem „explosiven Narzissmus“ hat die Hydra bloß einen neuen Kopf hervorgebracht, der das Unheil auf die Spitze treibt. Immer aber geht es in diesen Verkleidungen des Narzissmus psychologisch um dasselbe: Selbstwert und Grandiosität, Macht und Ohnmacht, Kränkung und Rache, Verschmelzung und Vernichtung.

Zur Untermauerung dieser Diagnose durchstreift der Autor die Geschichte von politischem Terrorismus und kollektiver Selbstmordbereitschaft, um seine Beispiele zu finden: der Massenselbstmord in Massada während des jüdischen Krieges im ersten Jahrhundert n. Chr., die Taten der persischen Assassinen zu Beginn des zweiten Jahrtausends, die Kamikaze-Aktionen japanischer Flieger gegen US-Schiffe im Zweiten Weltkrieg, der von Chomeini beschworene schiitische Geist von Kerbela im Krieg zwischen Iran und Irak, die palästinensischen Selbstmordattentate in israelischen Straßencafés, die islamistischen Bombenanschläge auf Synagogen, Diskotheken, Botschaften – explosiver Narzissmus überall.

Schmidbauer belässt es freilich nicht bei solchen historischen Ausflügen in fremde Welten, die in das Recycling seiner von Selbstpsychologie und Narzissmustheorie inspirierten Kernbefunde eingestreut werden. Im zivilisationskritischen Eifer „analysiert“ er auch die Pathologie der westlichen Lebenswelt, die das narzisstisch-explosive Ungeheuer nährt. „Es beginnt mit der faszinierenden Macht über die Bilder, welche jedem Kind der Konsumgesellschaft durch die TV-Fernsteuerung geschenkt wird, führt zur Macht über Leben und Tod, die jeder hat, der ‚am Drücker‘ einer Waffe ist, steigert sich noch in der Möglichkeit, selbst zur Bombe zu werden.“

Über waghalsige kulturpsychologische Assoziationsketten werden steile Thesen entwickelt wie etwa folgende: „Das Gewehr des Amokläufers und der Bombengürtel des Attentäters funktionieren auf Knopfdruck. Das Vorbild der Tat ist das Zapping vor dem Bildschirm: Ein unerwünschtes, ödes Leben soll verschwinden und einem besseren Bild Platz machen.“ Mit Fernbedienung und Joystick, ihr Kids der Konsum- und Mediengesellschaft, fängt der pathologische Narzissmus also an, bis er im finalen Terrorakt explodiert – wow! Aber waren die apokalyptischen Todesflieger in New York nicht von der inbrünstigen Verachtung einer Gesellschaftsform getrieben, die auch das Heiligste noch zum Konsumartikel macht, und hatten sie das World Trade Center nicht geradezu als Tempel des gottlosen Warenfetischismus attackiert? Und waren es nicht die Taliban, die in Afghanistan das Fernsehen untersagt hatten?

Wir haben es hier doch mit mentalen Wirkungen einer kapitalistischen Globalisierung zu tun, die mindestens mit einer dreifachen Zumutung aufwartet: den kalten Regeln eines entfesselten Marktes, der jeden Sinn außerhalb des Profits zu vernichten droht; dem Pluralismus der politischen Demokratie, welche die Religion in ihre sozialen Schranken verweist; der beunruhigenden Heterogenität einer kulturellen Moderne, die einen gegenmodernen Fundamentalismus hervorbringt.

Schmidbauer ist kein Fundamentalist, und manche seiner Einzeleinsichten sind durchaus erhellend. Man betreibt aber nicht Aufklärung, wenn man bei der Analyse des zeitgenössischen Terrorismus alles mit allem vermischt. Man führt die Psychoanalyse nicht aus den Sackgassen ihres Anwendungsdiskurses, sondern nur tiefer hinein, indem man sie zu diesem Gemisch als weitere Ingredienz dazugibt.

Dabei wäre die Wissenschaft vom Unbewussten wie keine andere geeignet, den unbegriffenen Vermittlungen von subjektiver, objektiver und intersubjektiver Welt im Terrorismus islamistischer Provenienz nachzuspüren. Freilich folgt auch der manichäische „Krieg gegen den Terror“ der vergleichbar unbegriffenen Dynamik einer zivilisatorischen Regression, die aus Sicht einer relationalen Psychoanalyse ebenfalls aufklärungsbedürftig ist.

Wolfgang Schmidbauer: „Der Mensch als Bombe. Eine Psychologie des neuen Terrorismus“. Rowohlt Verlag, Hamburg 2003, 192 Seiten, 19,90 Euro