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Archiv-Artikel

Denkschritte in die Quere

Dem Leben das Pathos, der Wahrheit den Irrtum: Die Gesamtausgabe Martin Heideggers ist bei der Auslegung von Nietzsches Zweiter Unzeitgemäßer Betrachtung angekommen. Dieser Band 46 enthält Seminarnotizen und hat es in sich: viel Nutzen, wenig Nachteil der Philosophie für das Leben

VON JÜRGEN BUSCHE

Nietzsches kleine Schrift „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ glaubt fast jeder zu kennen, der sich dann und wann an einem Gespräch über Philosophie beteiligt. Und wer gar die ganze Reihe kennt, in der dieser Titel 1874 als „Zweites Stück“ erschien, also „Die Unzeitgemäßen Betrachtungen“, gibt sich gern entzückt über die Gelegenheit zu neuerlicher Lektüre. Es ist hier nicht nur der glänzende Stilist Nietzsche, der mit seiner Prosa den Leser immer noch begeistern kann; bei diesen Texten wirkt auch der kulturkritische Impetus des Autors nach wie vor überzeugend. So kann man im Ersten Stück („David Strauss der Bekenner und Schriftsteller“) zum Mangel an Kultur in Deutschland lesen: „Kultur ist vor allem Einheit des künstlerischen Stils in allen Lebensäußerungen eines Volkes. Vieles Wissen und Gelernthaben ist aber weder ein nothwendiges Mittel der Kultur, noch ein Zeichen desselben und verträgt sich nöthigenfalls auf das beste mit dem Gegensatze der Kultur, der Barbarei, das heißt: der Stillosigkeit oder dem chaotischen Durcheinander aller Stile.“

Im Wintersemester 1938/39 veranstaltete Martin Heidegger an der Universität Freiburg ein Seminar über Nietzsches Zweite Unzeitgemäße. Dazu fertigte er Notizen unterschiedlicher Länge und Prägnanz an, die einen sorgfältigen Durchgang Absatz für Absatz durch die knapp 90 Seiten umfassende Schrift festhalten. Zugleich wird so der Gang der Seminarsitzungen durchdacht, und es zeigt sich, wie umsichtig, aber auch wie erwartungsvoll dieser Hochschullehrer in solche Sitzungen ging. Der Band 46 der Gesamtausgabe von Heideggers Werken, der jetzt diese Aufzeichnungen enthält, bringt im Anhang ebenso die Seminarberichte der Studenten, darunter auch einen des späteren Philosophieprofessors Karl Ulmer (später Lehrer von Ernst Tugendhat ) und eine Nachschrift des Seminarverlaufs von Hermann Heidegger, dem Sohn des Philosophen, der nach dem Krieg bei Gerhard Ritter im Fach Geschichte promoviert wurde. Es ist hier also möglich, nachzuprüfen, was von den Gedankenflügen des Seminars bei den Schülern landete und wie.

Heideggers Interesse an Nietzsche, das wird nun ganz klar, war nicht zeitgemäß begründet. Auf den Nietzsche der Nationalsozialisten geht er gar nicht ein. Heideggers Aufmerksamkeit gilt Nietzsche, insofern er ihn als Vorläufer seines eigenen Denkens betrachten muss. Für den Freiburger Ordinarius ist Nietzsche der einstweilen letzte große Philosoph der abendländischen Tradition. Aber Nietzsche hat nicht streng in der Terminologie des Fachs geschrieben, hat sie nicht einmal gekannt, obgleich ihm als Klassischen Philologen die dort verwendeten Begriffe natürlich bestens vertraut waren und er mit ihnen recht frei hantierte. Mehr noch, der junge Überflieger, der kaum 30-jährig noch vor seiner Promotion in Basel eine Professur erhalten hatte, ging mit Platon um, als sei der ein ungeliebter Nachbar auf der gemeinsamen Schulbank, und verehrte Heraklit wie den imponierenden Bengel von jenseits des Bahndamms. Dass mit deren Urworten in der Zeit des christlichen Mittelalters und der europäischen Aufklärung einiges geschehen war, so dass es nicht mehr dieselben waren, darüber dachte er nicht nach.

Mit unendlicher Geduld geht nun Heidegger daran, die Worte und Sätze Nietzsches in den Begriffen der Philosophie zu erfassen. Was ist Subjekt, was Objekt, was ist Subjektivität, was ist Objektivität, schließlich, was ist Gerechtigkeit, was Wahrheit, was versteht Nietzsche in seiner Betrachtung unter „Leben“?

Dem Nietzsche, der in der Philosophie – aber nicht für die Philosophie – große Ansprüche macht, zieht Heidegger so den Boden unter den Füßen weg. Doch er tut dies nicht, um seinen Diagnosen, seiner Zeitkritik zu widersprechen. Heidegger tut es, um Nietzsche als den wesentlichen Philosophen seiner Zeit für die Philosophie lesbar zu machen. Er zeigt, dass in Nietzsches Gedankengang logisch ist, was in der funkelnden Prosa seines Vortrags widersprüchlich erscheint. Einer von Nietzsches berühmtesten Sätzen etwa – nach dem Wahrheit eine Art von Irrtum sei, ohne die der Mensch nicht zu leben vermöchte; der Wert für das Leben entscheide zuletzt (also nicht die Richtigkeit der Aussage, gemessen an den Sachen) – lasse vermuten, der Autor sei ein gigantischer Umstürzler. Tatsächlich kommen sich bei dem Naumburger Theologensohn hier nur zwei Denkschritte in die Quere, die sehr unterschiedlicher Herkunft sind. Das „Leben“ denkt Nietzsche nicht nur als natürlichen Prozess von einzelnen oder mehreren; er versteht es zugleich als eine Seinsform, die im Ganzen ihre Eigentümlichkeiten und ihr Schicksal hat. Heidegger zeigt, dass das auch in der Zweiten Unzeitgemäßen schon so gedacht wird. Das ist neu. Der Wahrheitsbegriff aber ist der herkömmliche und passt nun nicht mehr. Wahrheit als Angleichung, mit dem Ziel der Richtigkeit, dann der Gewissheit – darin liegt eine Tendenz zur Verfestigung der Verhältnisse. Und das widerspricht den Erfordernissen des Lebens, dem Pathos, mit dem bei Nietzsche vom Leben die Rede ist.

Es ist Heideggers Philosophie, mit der hier, bei allem philologisch-kritischen Aufwand, Nietzsche in die Traditionskette eingebracht wird. Aber das kann kein Einwand mehr sein. Wenn die These aufgestellt werden könnte, dass die Philosophie keine Umwege duldet, so wären die Namen Friedrich Nietzsches und Martin Heideggers vorzüglich geeignet, ihre Richtigkeit zu demonstrieren. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als die meisten der philosophisch Gebildeten über Nietzsche irritiert und von Heidegger entsetzt waren, versuchte man vielerorts und mit unterschiedlichen Ambitionen, an Autoritäten anzuknüpfen, die älter waren als sie: an Hegel, an Marx, an Husserl, an die Anfänge der analytischen Philosophie. Das meiste davon hat sich inzwischen erledigt oder schleppt sich als Anachronismus fort. Es waren die Franzosen – zunächst Sartre und Levinas, später mit noch größerem Erfolg Foucault und Derrida –, die mit kritischem Anknüpfen an Nietzsche und Heidegger die Philosophie in die Diskussionen brachten, in denen ihr Denken historisch, das heißt zurückliegend werden kann.

Freilich, welche Arbeit ein solches Unterfangen bedeutet, das kann man aus dem Band 46 der Heidegger’schen Gesamtausgabe ersehen.

Martin Heidegger: „Zur Auslegung von Nietzsches II. Unzeitgemäßen Betrachtung“. Band 46 der Gesamtausgabe, hrsg. von Hans-Joachim Friedrich. Vittorio Klostermann Verlag, Frankfurt a. M. 2003, 381 Seiten, 49 €