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Archiv-Artikel

Der Mensch in der Versteppung

Louis Begley hat in „About Schmidt“ einen übellaunigen Anwalt beschrieben, dem im Alter der Sinn des Lebens entgleitet. In der Verfilmung durch Alexander Payne ist Schmidt zum Jedermann der Vorstädte geworden, für dessen Darstellung Jack Nicholson sogar auf sein Haifischgrinsen verzichtet

Alles wirkt seltsam unvertraut an Nicholson, dem alten Hipster

von HARALD FRICKE

Meyer hat weniger, Müller auch. Beim Namen Schmidt kommt man auf gut 4.000.000 Treffer im Internet. Damit ist er populärer als Jesus zwar und steht zugleich aber doch für ein diffuses Profil: Man weiß nicht recht, nach wem man überhaupt unter diesem Namen suchen sollte. Nicht in Deutschland und nicht in Amerika. Schmidt, das ist der Inbegriff von grauer Masse, die sich – in unendlich viele Individuen aufgesplittert – leicht der Sichtbarkeit und auch der Aufmerksamkeit entzieht. Darin liegt ein gesellschaftliches Paradox, ein Ärgernis zumindest für Soziologen. Und eine enorme Gefahr, bedenkt man, wie leicht der Einzelne aus Angst vor Isolation und Versagen zum Amokläufer werden kann. Denn diese Angst ist permanent da in Amerika, das hatte schon der Philosoph Henry David Thoreau erkannt, als er 1854 an seinen Landsleuten beobachtete: „Die Masse der Menschen führt ein Leben in stiller Verzweiflung.“

Warren Schmidt, dessen ebenso exemplarische wie ausgedachte Geschichte der Filmregisseur Alexander Payne in „About Schmidt“ erzählt, fühlt sich dieser Masse bestimmt nicht zugehörig. Er hat 42 Jahre bei einer Versicherung in Omaha, Nebraska, gearbeitet und es bis zum Vizechef des Unternehmens gebracht. An seinem letzten Tag vor dem Ruhestand sitzt er in einem komplett leer geräumten Büro, starrt auf die Uhr, bis der Zeiger die Fünf erreicht und weiß: Jetzt ist es vorbei. Jetzt endlich kann sein „dritter Frühling“ als Pensionär beginnen, kann er das Ersparte mit seiner Frau Helen verprassen auf ausgedehnten Wohnmobilreisen in einem 20 Meter langen Winnebago Adventurer.

War das nicht das Ziel, der Traum, als er damals mit dem Job anfing? Schon bei der Verabschiedung am Abend muss Schmidt an die Bar und einen Whisky nehmen, weil er die Lobeshymnen auf seine unschätzbaren Dienste für die Firma nicht erträgt. Später wird Helen sterben, von der er ohnehin nicht mehr wusste, warum er überhaupt mit „dieser alten Frau“ in einem Haus lebte.

Später auch wird seine einzige Tochter Jeannie einen windigen Wasserbettverkäufer names Hertzel heiraten, den er verabscheut. Ändern kann sein Unbehagen nichts an Jeannies Entscheidung, und trotzdem muss er eine überaus freundliche Rede auf das junge Glück halten. Dann wird sich Schmidt vollends darüber bewusst, dass er auf dieser Welt nicht mehr gebraucht wird, dass er am Nullpunkt der Existenz angelangt ist.

Sein letztes bisschen Hoffnung lebt in Tansania: Für 22 Dollar im Monat ist er Pate von Ndugu, einem sechsjährigen Jungen, dem der Witwer Briefe schreibt über seine Einsamkeit und seine Wut, die besten Chancen im Leben verpasst zu haben. Kennen oder gar lieben lernt Schmidt ihn trotzdem nicht, genauso wenig wie er ein neues Sinngefäß für sein Überbleibsel-Selbst entdecken wird. Am Ende bleibt er mit all seinem aufgeschobenen Leben ein Schmidt unter vielen, die der Alltag aus den Augen verliert.

Im Kino wird dennoch niemand Warren Schmidt vergessen. Nicht nur, weil das Elend auf der Leinwand stets larger than life erscheint und deshalb bemerkenswert. Es liegt an der Romanvorlage von Louis Begley, nach der Payne den Jedermann der Vorstädte für zwei Stunden als ungeheuer fein nuancierte Figur porträtieren konnte, als Mensch in der Versteppung. Wo Begleys Schmidt allerdings ein reicher und übel gelaunter New Yorker Upper-Class-Anwalt war, dessen rissige Existenz erst allmählich zum Vorschein kam, ist er bei Paynes ein Nowhere-Mann aus dem Niemandsland des Mittelwestens – von Beginn an in Auflösung begriffen: hängende Schultern, abwesender Blick und ein teigiges Gesicht, das jeder nach seinen eigenen Vorstellungen formen könnte.

Dieses Gesicht aber gehört Jack Nicholson, der für seine Rolle in „About Schmidt“ bereits den Golden Globe als bester Darsteller erhalten und auch gute Chancen bei den diesjährigen Oscar-Verleihungen hat.

Im leeren Büro sitzt Schmidt, schaut auf die Uhr und weiß:Jetzt ist es vorbei

Einen doppelten Erfolg gab es für Nicholson zuletzt 1975 mit „One Flew over the Cuckoo’s Nest“, doch diesmal ist es nicht so sehr sein unbändigbares Poweracting, für das man sich bei Schmidt begeistert. Mimisch hat Nicholson abgespeckt, sein Grinsen sieht nicht mehr nach Haifisch aus, wie damals das Time Magazine schrieb. Da ist kein Teufel, kein Psycho-Clown und kein Comic-Joker: Alles wirkt seltsam unvertraut an Nicholson, dem alten Hipster.

Durch diese Verweigerung gegenüber dem eigenen Klischee geht er ganz in den desolaten Empfindungen eines Mittsechzigers auf, der keinen Halt findet. Mehr noch, statt Schmidt zu einer Nicholson-Facette unter vielen zu machen, führt er das Schmidt-Werden vor und zeigt, wie sich der Verfall im Alter als Bruchlinie auf der Oberfläche seines Gesichts einzeichnet. Ohne den Schmerz pathetisch zu erhöhen, fährt Nicholson die Gefühle herunter – in ihm zerren, leiden, hadern, greinen zig Enttäuschungen, still und auf schleichendem Fuße.

Payne lässt Nicholson viel Raum, damit diese Verwandlung nicht bloß wieder zu einer Parodie auf das Scheitern des american way of life gerät. Vielleicht zu viel, wenn man bedenkt, dass Cathy Bates als Mutter des künftigen Schmidt-Schwiegersohnes in wenigen Minuten rasant durchspielen muss, wie sich ein Ex-Hippie-Chick aus der Woodstock-Ära heute so fühlen muss zwischen Naturkost, gebatikter Selbstverwirklichung und Alterssex im Whirlpool. Nicholson dagegen hat in „About Schmidt“ alle Zeit der Welt, wenn er einsam in seinem Winnebago auf einen letzten Roadtrip geht oder regungslos mit ansieht, wie seine Versicherungsakten – die Bilanz eines Arbeitslebens – nach vollzogener Pensionierung auf den Sperrmüll wandern.

Dass er nicht weiß, was er aus solchen Momenten lernen soll, ist wiederum eine der tief traurigen Einsichten, die Paynes Verfilmung und Begleys Buch miteinander teilen. Er könnte brüllen, sogar heulen, doch Nicholson bleibt stumm bis zum Schluss. Erst in der allerletzten Filmminute löst sich die innere Umkrampfung. Dann möchte man mit ihm weinen – egal ob mit dem alt gewordenen Nicholson oder mit dem immer schon steinalten Schmidt. Nicht aus Mitleid, nicht aus Sympathie, sondern aus der eigenen enttäuschten Zuversicht.

„About Schmidt“. Regie: Alexander Payne. Mit Jack Nicholson, Cathy Bates, Hope Davies u. a. USA 2002, 124 Min.