: bettina gaus über Fernsehen Wie nützlich könnte Folter sein
Zwei von drei Gästen in der Pizzeria meinen: Gewalt in Verhören ist nicht tabu. Das ist ziemlich unheimlich
Ein Junge wird entführt und fast unmittelbar nach der Tat ermordet. Im Prozess gegen den Täter bedauert der Staatsanwalt öffentlich, nicht die Todesstrafe beantragen zu dürfen. Der Angeklagte muss vor der wütenden Menge geschützt werden, die seinen Kopf fordert. Das Urteil – lebenslänglich – wird vom Publikum mit lautem Beifall quittiert. „Das hielt man für unumgänglich, staatstragend“, sagt heute der ehemalige Gerichtsreporter des Spiegel, Gerhard Mauz.
Längst vergessene Ereignisse aus den 60er-Jahren, die durch eine einfühlsame, differenzierte Dokumentation von Christel Schmidt in die öffentliche Erinnerung zurückgerufen werden. Zum ersten Mal lief die vom Hessischen Rundfunk produzierte Sendung im Oktober 2002, wenige Tage nach der Ermordung des 11-jährigen Jakob von Metzler. Am Dienstag wurde sie vom SFB im Rahmen der Reihe „Die großen Kriminalfälle“ gezeigt. Wer zappte, konnte gleichzeitig im Videotext von Sat.1 die Ergebnisse der jüngsten TED-Umfrage nachlesen: Muss Folter bei Polizeiverhören tabu sein? Nein, finden 61,5 Prozent der Anrufer. Eine Stern-Umfrage ergab ein ähnliches Ergebnis. 63 Prozent sind der Ansicht, die Androhung von Folter solle im Zusammenhang mit der Suche nach dem entführten Jakob nicht bestraft werden.
Das war in den 60er-Jahren anders. Der Volkszorn, der auch den Staatsanwalt erfasste, wünschte härtere Strafen. Folter aber war damals kein Thema: weil die Erinnerung an Verhältnisse noch lebendig war, unter denen diese Praxis zur Normalität gehörte? Ich schaue die Leute auf der Straße nun anders an als vorher. Zwei von drei Leuten in der Schlange beim Bäcker halten also Folter unter bestimmten Umständen für ein unausweichliches Mittel, dasselbe gilt für die Gäste der Pizzeria um die Ecke und für die Teilnehmer des Elternabends. Das sind ja nicht alles finstere Gestalten, die kein anderes Ziel als die Abschaffung des Rechtsstaates haben. Wie kommen sie zu einer Einstellung, die ich als zutiefst menschenverachtend empfinde?
Nicht, dass ich ohne Verständnis für den Wunsch nach Anwendung aller nur vorstellbaren Mittel wäre, um das Leben eines geliebten Menschen zu retten. Wenn jemand meine Tochter entführte und ich den Verdächtigen in die Finger bekäme: ich zögerte keinen Augenblick. Weil das so ist und weil ich in dieser Hinsicht keine Ausnahme bin, haben sich zivilisierte Gesellschaften darauf verständigt, dass die Opfer von Gewalttaten nicht zugleich Richter oder Ermittler sein dürfen.
Es ist keine neue Erkenntnis, dass die Anwendung der Folter überaus wünschenswerte Erkenntnisse zutage fördern kann. Schließlich werden nicht nur Unschuldige gefoltert. Und wenn schon das Leben eines einzigen Kindes eine solche Maßnahme rechtfertigte: wie viel legitimer wäre die Folter, wenn dadurch ein Terroranschlag verhindert werden könnte, der Tausende von Opfern forderte?
Hier zucken viele zurück. Politische Folter: Niemals! Warum denn nicht, wenn man das Mittel grundsätzlich für erwägenswert hält? Nur deshalb, weil die Opfer (noch) keine Gesichter haben? Das ist sentimental. Wenn schon, denn schon. Dann über Bord mit der Unschuldsvermutung von Verdächtigen und mit der Menschenwürde von überführten Tätern. Es dient schließlich einem guten Zweck. Nein, ich bringe es nicht fertig, die Frage ohne Sarkasmus zu erörtern. Dabei ist der Wunsch, der hinter diesen abscheulichen Überlegungen steckt, doch keineswegs verächtlich: dass nämlich das geschriebene Recht imstande sein möge, für Gerechtigkeit zu sorgen – und alle menschlichen Konflikte in ein berechenbares, ethisch gültiges Koordinatensystem einzufügen. Deshalb wird immer wieder an der Regelung der Sterbehilfe herumgedoktert, deshalb ruft das Völkerrecht inzwischen kaum mehr als ein Achselzucken hervor. Weil die Unzulänglichkeiten so offenkundig sind.
Aber die Justiz kann nicht jeden menschlichen Konflikt heilen. Sie kann stets nur die Regel definieren, nicht die Ausnahme. Einem Beamten, der einem Verdächtigen verzweifelt den Arm verdreht, ist zwar, wie die SZ zu Recht schrieb, ein verständnisvoller Richter zu wünschen – aber kein legitimierendes Gesetz. Dasselbe gilt für eine Ehefrau, die ihren todkranken, leidenden Mann erschlägt. Und ein gültiges Völkerrecht, das für seine Durchsetzung nicht auch die Zustimmung von brutalen Diktatoren bekäme, wäre angesichts der geringen Zahl von demokratischen Staaten allenfalls ein moralisches Postulat. Also bedeutungslos.
Die Sendung von Christel Schmidt hieß: „Der rätselhafte Kindermord.“ Opfer bekannt, Täter bekannt – was war da rätselhaft? Das Motiv. Der verurteilte Arztsohn, zum Zeitpunkt der Tat 23 Jahre alt, wünschte sich ein lockeres, sorgenfreies Leben. Nach allem, was wir bisher wissen, wüschte sich das auch der Mörder von Jakob. Und das reicht, um ein Kind zu ermorden? Da bleiben doch viele Fragen offen. Humanismus (und übrigens auch Christentum) bedeutet: nicht zu differenzieren zwischen lebenswerter und nicht lebenswerter Existenz. Dieser Grundsatz schließt Mörder und Tatverdächtige ein. Und somit ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit.
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