stockholm new music : Neue Musik in Schweden
Perlen und Säue
Nach 500 Jahren, ohne auch nur einen Komponisten von Weltrang hervorgebracht zu haben, pflegt Stockholm einen scheuen Blick auf die Welt. Am Rande des New-Music-Festivals war oft davon die Rede, dass die heimischen Komponisten auch heute international so unbedeutend seien, weil sie so fern vom Zentrum arbeiteten. Dabei blieb allerdings die Frage unbeantwortet, wo genau denn der Hot Spot der zeitgenössischen Klangkunst liegen soll. Vielleicht in Italien, wo der Berio-Schüler Luca Francesconi zu Hause ist, der nach Stockholm geladen war? Oder vielleicht in der Person des Klangfarbvirtuosen Peter Eötvös, eines gebürtigen Ungarn, der bisher vor allem in Frankreich und Deutschland gearbeitet hat?
Der Eindruck, in einem musikalischen Entwicklungsland zu leben, erstaunt, spielt Geld in Schweden doch die geringste Rolle. Womöglich, gab Ivo Nilsson, der künstlerische Leiter des Festivals, zu bedenken, liegt in der finanziellen Sicherheit gerade das Problem: Wer sich in seinem Territorium wohl betreut weiß, setze die Maßstäbe nicht hoch genug an. Mittelmaß offenbarte sich beim achttägigen Festival vor allem in der Generation der heute Fünfzigjährigen, die einen mathematisch-verklausulierten Stil pflegen, als sei der Serialismus noch immer ein Dogma. Den Gegenpol dazu markierten zwei Musiker, die in ihrer Heimat weitaus weniger beachtet werden als zum Beispiel in Deutschland. Der Noise-Komponist Dror Feiler und der Organist Hans-Ola Ericsson verkörpern mit ihrer unverstellten Klangwucht Performer-Persönlichkeiten, wie sie das Festival in diesem Jahr suchte.
Ivo Nilsson hatte Künstler geladen, die die Arbeitsteilung des klassischen Musikbetriebs in Frage stellen. Das Stockholm Low Dynamic Orchestra, eine leise Antwort auf die Geräusch-Trash-Musik Dror Feilers, improvisierte nach grafischen Spielanweisungen der Nachkriegsavantgarde. Und Peter Eötvös stellte sein neues Trompetenkonzert mit dem Solisten Markus Stockhausen vor, ein recht gefälliges Klangfarbenstück mit gleich zwei Solokadenzen.
Dass – nach den Debatten der Sechzigerjahre – in Stockholm die Entfremdung des Interpreten vom Kunstbetrieb erneut problematisiert wurde, mag vielerorts ein müdes Lächeln hervorrufen. Andererseits hat sich seither nur wenig bewegt. Meisterkomponisten, Stardirigenten und Virtuosen lassen sich noch immer besser vermarkten als Künstlerkollektive, die sich dem Livespiel – und damit dem Unberechenbaren – verschrieben haben.
Dass diese Ideen keinen Staub angesetzt haben, zeigte Schwedens einziges Neue-Musik-Ensemble mit Pop-Appeal: The Pearls before Swïne Experience (sic!). Die vier jungen Musiker geben nur Kompositionen in Auftrag, die nicht länger als fünf Minuten dauern, und unterziehen sie auf den Bühnen von Rock- und Jazzclubs einer Härteprüfung.
Beim Abschlusskonzert des Festivals spielten sie im klassizistischen Tanzsaal des Kulturtempels Nalen – und zogen ein Publikum an, das nicht nur zahlreich und begeistert war, sondern auch heterogener als die sonst so eingeschworene Neue-Musik-Szene.
MARTINA SEEBER