: Trieb ohne Herde
Eine ganz eigene Gesellschaft: Seit fünfzehn Jahren lebt der amerikanische Journalist Richard Grant on the road. In dem Buch „Ghost Riders“ beschreibt er seine Erfahrungen als moderner Nomade
VON FRANZ DOBLER
Viele von uns, sicher, beneiden sie um ihre Lebensform. Wir träumen davon. Den ganzen Kram in der Wohnung verkaufen! Das verdammte Haus! Das Parteibuch, den Job, alle Scheißversicherungen hinschmeißen. Den öden Freunden bye-bye sagen und dann aufs Pferd und immer dorthin, wohin dein Herz dich führt.
Und die Nomaden, träumen sie manchmal davon, so zu leben wie wir? Hätten sie lieber eine Klobrille, ’ne bombensichere Küchenzeile und 5.000 CDs? Das möchten wir uns nicht vorstellen.
Mit den schönen, im 19. Jahrhundert hängenden Bildern des Sesshaften vom Nomaden haben die Abenteuerberichte des Engländers Richard Grant über seine „Reisen mit amerikanischen Nomaden“ wenig zu tun. Die Gegenwart hat neue Nomaden geschaffen. Die einen haben ein sicheres Arbeitsleben hinter sich und tuckern nun mit ihren Wohnmobilen immer dorthin, wo’s warm ist; sie sind alt, wollen maximale Freiheit für den Lebensabend und leeren selten das Postfach in weiß Gott wo. Die anderen sind Spinner, Verlierer, Systemgegner, Drogenfreaks, die per Schrottkarre, Zug oder Autostopp durch den Kontinent streifen.
Was verbindet diese gegensätzlichen Herden? Die quasi drogensüchtige Gier nach permanentem Unterwegssein und das Bedürfnis, sich der staatlichen Kontrolle zu entziehen. Die nur greift, wenn sie sich in einem „legalistischen Balanceakt“ –friedliche Treffen ohne illegale Aktivitäten sind in den USA erlaubt – zusammenrotten. Eine Gesellschaft für sich. Niemand weiß, wie viele Ghost Riders es sind, die sich ohne festen Wohnsitz der Neugier diverser Behörden entziehen. Für die letzten Rodeo-Profis gehört die ständige Wanderung zum Beruf, und bei den Freight Train Riders of America, „der so genannten ‚Hobo-Mafia‘, die unter dem Verdacht steht, Dutzende von Morden begangen zu haben und Güterzüge als Transportmittel für Drogen zu benutzen“, bringt auch die intensive Recherche kein Licht ins Dunkle.
„Die meisten Schlägereien ereignen sich“ in der Underdog-Zone bei einem sehr großen, 20.000 Menschen zählenden Treffen der Rainbow Family „zwischen Stammgästen und Besuchern, und gewöhnlich ist der Anlass ein Missverständnis aus Trunkenheit … Schlägerei Nr. 29 wird von einem Burschen namens Joe angezettelt, ein Teilzeittramp Mitte dreißig mit blonder Zottelmähne ... Er hat am Stadtrand von Tucson in einer Kommune von Motorradfahrern und Tramps gewohnt und will wissen, warum er mich dort nie gesehen hat. Plötzlich steht er ganz dicht vor mir, sein Atem stinkt, und er brüllt, dass ich ein Zivilbulle sei.“
Grant arbeitet – abgesehen von den ausführlichen historischen Forschungen – wie ein Kriegsreporter. Er ist kein Besucher, er hängt mit drin und weiß nicht, wann’s vorbei sein wird. Seit 15 Jahren ist auch er süchtig nach dem permanenten On-the-road-Leben und wurde nur Journalist, um das finanzieren zu können. Ein großartiger Stilist und sorgfältiger, subtiler, mutiger Journalist. Bei Bruce Chatwin sehe ich immer auch ein fröhlich geschwungenes Schmetterlingsnetz – und bei Richard Grant im Hintergrund immer auch John Rambo. Teil I wohlgemerkt. So die ersten 20 Minuten.
Der charmante rote Faden aber ist die Selbstbeobachtung. Woher, fragt sich Grant immer wieder, woher kommt die Unfähigkeit, sesshaft zu sein? Warum sind keine hübschen, jüngeren, nichtabgedrehten Frauen unterwegs? Wie kann ich mit der Frau, die ich liebe, zusammenleben? Warum glauben diese verdammten Sesshaften, dass sie normal leben? Wie ist es, wenn ich alt bin?
Am Ende meines Lieblingsbuchs des Jahres bekommt der Mann amtliche Hilfe. „Die Furcht vor einer möglichen Abschiebung überwand tiefere Ängste und Vorurteile und führte zu einer Hochzeit, die schon viel früher hätte stattfinden sollen.“ Falls diese Frau ihn mehr als üblich von der Arbeit abhält, sind wir dagegen.
Richard Grant: „Ghost Riders“. Aus dem Amerikanischen von Norbert Hofmann. Edition Tiamat, Berlin 2003, 336 Seiten, 20 €