: Das Hotel am Rande der Zeit
Während sich große Bettenburgen mit ihren Preisen unterbieten, haben kleine Berliner Häuser das Nachsehen – etwa das Belvedere im Grunewald
von KATRIN RAETZ und MARTIN REICHERT
Nein, es ist nicht Mr. Stringer, der dort mit Jackett und Seidenschal in der Ecke in seinem Sessel sitzt: Es handelt sich um Erwin Opel, 73 Jahre alt und Hotelbesitzer, zu seinen Füßen liegt die Hündin Abi. An der Rezeption gegenüber sitzt auch nicht Mrs. Marple, sondern Frau Welcke-Schlüter*, seit neun Jahren treue Angestellte, in guten wie in schlechten Zeiten, in letzter Zeit überwiegen die schlechten. Die Stimmung in der Lobby ist gespannt, fast wie in einem der alten Kriminalfilme: „Wir haben eigentlich gar keine Zeit, wir sind einem Betrüger aufgesessen, aber kommen sie herein“, ruft Herr Opel. Auch die Kulisse stimmt. Miss Marple hätte sich hier, im Grunewald-Hotel Belvedere, wohlgefühlt, zwischen Kamin, verknautschten Sesseln und Ölgemälden.
Es gibt keine Leiche, die hektische Betriebsamkeit gilt einem umtriebigen Anwalt, der Herrn Opel eines seiner fünf Hotels, die Pension Diana in Berlin, „wegnehmen“ will. Meint Herr Opel. Ganz so einfach ist es nicht, es gab einen Wasserschaden im letzten Jahr, Interessenten bieten nicht die Summe, die Herr Opel will, eine komplizierte Geschichte. Und nur ein Symptom, denn sein ganzes kleines Imperium ist in Gefahr – es wird bedrängt von den großen Hotelketten wie Ibis oder Novotel. „Langsam wird es gefährlich“, sagt Herr Opel, auch wenn Luxushotels wie das, das die Ritz-Carlton-Kette am Potsdamer Platz öffnete, keine Konkurrenz sind.
Das Belvedere in der Toni-Lessler-Straße ist noch nicht bedroht, doch auch vor diesem Ort, an dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, macht die Krise nicht Halt. Es ist das Lieblingshotel Herrn Opels, in dem er auch residiert: in einer eigenen Suite. Er ist ganz Hotelmensch.
Ein paar Straßenzüge weiter hat Vicki Baum 1929 ihren Roman „Menschen im Hotel“ verfasst, in dem Leute in Hotelhallen sitzen und ihr Leben als Roman kolportieren. Ein Jahr später, als die Bühnenversion am Theater am Nollendorfplatz Premiere hatte, erblickte Erwin Opel das Licht der Welt – unter weniger mondänen Umständen: Der Vater war fränkischer Bauer. Ein Beruf, mit dem Opel nichts am Hut hatte, ihn zog es in die Welt, die zunächst Lübeck hieß.
So wie Vicki Baum für ihre Recherchen als Zimmermädchen im Hotel Bristol Unter den Linden recherchiert hatte, lernte Erwin Opel das Hotelier-Handwerk als Page im Hotel von Verwandten: „Du musst fleißig sein und darfst nicht auf die Zeit schauen“, hatte der Onkel, ein Nazi, den jungen Erwin Opel ermahnt. Gleichwohl hat der Neffe sich immer am meisten für die hübschen Frauen interessiert.
Direkt nach Kriegsende ging er dann mit seiner Tante nach Berlin, um mit ihr zusammen das neu erworbene Belvedere aufzubauen. Die Grunewald-Villa war bis dahin als Altersheim genutzt worden.
Die Zimmer im Belvedere sind so wie Herr Opel, individuell, ein bisschen aus der Zeit, etwas schräg. Er hat alles persönlich eingerichtet. Die Westberliner Nachkriegsjahrzehnte scheinen sich wie Jahresringe in den Räumen abgelagert zu haben. Das 80er-Jahre-Möbel-Höffner-Bett steht flankiert von weiß lackierten Stilmöbeln, die noch Vorkriegsqualität erahnen lassen. Auf der Kommode steht das Telefunken-Radio „Gavotte“, der Fernseher ist mono und von Phillips, Marke unverwüstlich.
Kein Raum gleicht dem anderen, und in einem Zweibettzimmer im Erdgeschoss steht sogar ein Flügel. Es ist das schönste Zimmer im Haus, hier hat Operettenkönig Robert Stolz komponiert, der populäre Tenor Rudolf Schock mit seinem Begleiter gesungen. Das waren die glanzvollsten Zeiten des Belvedere: In der Hotelküche wurde noch gekocht, „von der Roulade bis zum Schnitzel gab es alles“, erinnert sich Herr Opel, und wenn Rudolf Schock da war, servierte man auch gehobene Küche. Heute speist nur noch Herr Opel mit seinem Personal, für die Gäste gibt es Frühstück und auf Wunsch einen kleinen Snack.
Wenn denn Gäste da sind, im Moment sind es nur drei. Seit der Wende, „seit dem Zusammenbruch“, wie Herr Opel sie nennt, gehen die Geschäfte schlecht. Unzählige normierte Bettenburgen sind in Berlin errichtet worden, und es werden mehr. Dort gibt es Chipkarten statt Schlüssel, Porno-Kanal statt Mono-Fernseher, Einheitsschick statt Sammelsurium. „Schema F“, sagt Herr Opel. „Können die gar nicht anders.“ Die Gäste wollen das aber wohl so. Warum 82 Euro pro Nacht im Belvedere zahlen, wenn das Adlon ein ganzes Wochenende für 200 Euro anbietet?
Ausgerechnet die Love Parade beschert dem alten Haus einmal im Jahr guten Besuch. Junge Raver kommen, um sich vom uniformen Vergnügen zu erholen. Leute, die auf Wellnessbereiche verzichten können und zur Not auch mit dem Bad halbe Treppe vorlieb nehmen.
Die Tage können lang werden im Belvedere, ab und zu geht Herr Opel mit dem Hund raus. Gleich nebenan erinnert eine Gedenktafel an das Ehepaar Gottschalk, das hier 1941 zusammen mit Sohn Michael aus dem Leben schied. Der Schauspieler Joachim Gottschalk hatte sich zusammen mit Frau und Kind umgebracht, um der Deportation seiner jüdischen Ehefrau durch die Nazis zuvorzukommen. Auch dies ein Film: „Ehe im Schatten“ von Kurt Maetzig. „Dabei haben die Juden niemandem etwas getan“, sagt Herr Opel.
Ein paar Straßen weiter wurde Walter Rathenau ermordet, wurde auf den Publizisten Maximilian Harden ein Anschlag verübt, verwüstete ein SA-Kommando die Wohnung von Martha und Lion Feuchtwanger. Nach dem Krieg kamen dann die Amerikaner, Erwin Opel erinnert sich an den Hotelgast Prinz Louis Ferdinand von Preußen, der es sich im Belvedere zusammen mit den US-Offizieren gut gehen ließ, „in der schlechten Zeit, als es nichts zu essen gab.“ Herr Opel hat schon viel gesehen.
Heute wohnt im Belvedere ab und an das Gefolge gekrönter Häupter: Wenn im Schlosshotel Grunewald hoher Besuch weilt, wird der Tross schon mal bei Herrn Opel untergebracht. Dabei nennt er ebenfalls ein Schlosshotel sein Eigen. Es ist sein Juwel, das Nordland in Mecklenburg-Vorpommern. Zu seinem Imperium gehört noch die Hotelpension Alpina in Berlin, das Hotel Residenz am Hochwald in Bad Harzburg und besagte, unglückselige Pension Diana.
Vor einem Jahr hatte Herr Opel einen Schlaganfall, er sieht seitdem nicht mehr so gut. Seiner Liebe zu den Frauen konnte das nichts anhaben: „Ich bin verliebt“, erzählt Herr Opel, „das gibt mir zu denken in meinem Alter.“ Bedenkenswert auf jeden Fall, dass sein Herz einer gerade mal 22 Jahre alten Polin gehört, zumindest wirbt er um sie. Sie studiert Volkswirtschaft und würde später gerne im Hotelfach arbeiten. So wie sein Hotel auf trotzige Art zeitvergessen scheint, ignoriert auch Erwin Opel, dass er die 70 überschritten hat. Er erzählt gerne, wie er früher hübsche Schwedinnen mit Lübecker Marzipan angelockt hat. „Ich war ein schöner, junger Mann damals.“
Der elegante Herr Opel verabschiedet seine Gäste mit angedeuteter Verbeugung aus seinem Hotel am Rande der Zeit: „Wer bei uns wohnt, kann damit nicht angeben“, sagt er. Dafür bleiben einige schöne Erinnerungen.
* Name geändert