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Archiv-Artikel

Poesie der Verantwortung

Am besten laufen die Pornos: Internationale Videokunst ungestört zu Hause anschauen – die nomadische Videothek e-flux macht es für ein Jahr möglich am Platz der Vereinten Nationen

VON JAN KEDVES

Man kennt die Situation vom Galerien- und Museumsbesuch: Auf einem Monitor wird eine Videoarbeit gezeigt, es drängen sich jedoch so viele Besucher um das Gerät, dass kaum etwas zu erspähen, geschweige denn ein Kopfhörer zu ergattern ist. In der Blackbox ähnliches Generve: Die Luft ist stickig, die Bänke sind belegt, der Film ist gerade in der Mitte, oder am Ende, wer weiß es schon genau.

Videokunst, die niemand richtig sieht, das ist natürlich nicht im Sinne der Erfinder. Die Pioniere des Genres verfolgten in den Sechzigern und Siebzigern immerhin das Anliegen, eine demokratische, jedem jederzeit zugängliche Kunstform zu entwickeln. Abhilfe schafft hier nicht nur das Video-Forum des Neuen Berliner Kunstvereins, das seit 1972 internationale Videokunst in einem Präsenzbestand zugänglich macht, sondern auch e-flux video rental: Knapp neunhundert VHS-Kassetten mit Arbeiten unter anderem von Yoko Ono, Dominique Gonzales-Foerster, Jonas Mekas oder John Bock führt die Videothek, die im September eine Filiale in Berlin eröffnet hat.

Stammsitz von e-flux video rental, kurz EVR, ist New York, im Jahr 2005 gab es im Hof der Kunst-Werke bereits sechs Monate lang eine Berliner Dependance. Diesmal findet sich die Zweigstelle, zeitlich begrenzt auf ein Jahr, am Platz der Vereinten Nationen. Im Unterschied zum Video-Forum der NBK kann man sich hier wie in einer normalen Videothek die Kassetten ausleihen. Wer seinen heimischen VHS-Player inzwischen entsorgt hat, kann die Filme auch direkt vor Ort anschauen. In beiden Fällen ist der Service kostenlos.

„Videokunst war ursprünglich für ein Massenpublikum gedacht, sie sollte über gängige Formate wie Fernsehen oder Videotape zirkulieren“, erklärt Anton Vidokle, der EVR im Jahr 2004 gemeinsam mit der Künstlerin Julieta Aranda gegründet hat. Sie ergänzt: „Sobald Videoarbeiten als Kunst anerkannt werden, verschwinden sie in der Regel in Sammlungen. Für die Öffentlichkeit werden sie dabei durch ein Still Image ersetzt – eine denkbar schlechte und unakkurate Repräsentationsweise für ein zeitbasiertes Medium.“

Auf dem Tresen der in cleanem Weiß gehaltenen neuen EVR-Filiale steht kein Laptop, sondern eine alte Hermes-Precisa-Schreibmaschine. Ein Hinweis darauf, dass der Schwerpunkt hier aufs Analoge gelegt wird. Die Frage, warum die Filme nicht auch auf DVD angeboten werden, erklärt sich von selbst: VHS-Kassetten lassen sich zu Hause nicht einfach mit zwei Mausklicks kopieren und ins World Wide Web hochladen. Dass von den bislang etwa vierhundert angefragten Künstlern lediglich zwei die Zugänglichmachung ihrer Werke bei EVR abgelehnt haben, liegt nicht zuletzt daran, dass die Initiatoren mit dem Medium VHS diesen Mittelweg gewählt haben – zwischen der totalen Nichtverfügbarkeit und der gefürchteten Beliebigkeit, die sich auf durchgooglebaren Plattformen wie YouTube oder Dailymotion rasch einstellt.

Dabei geht es den e-flux-Machern nicht einfach um Kopierschutz: Sie sprechen von dem Verantwortungstransfer, der sich vollziehe, sobald ein Kunde mit einer VHS-Kassette die Videothek verlasse, von der eigenen Poesie, die solch eine Interaktion mit sich bringe, kurz: von EVR als Kunstwerk.

Bemerkenswerter noch als das Medium operandi des Service ist sein Finanzierungsmodell: Die Mittel zum Betreiben der Videothek, die in den nächsten Monaten auch Filialen in Sao Paolo und Vilnius eröffnen wird, stammen aus den Erlösen, die Anton Vidokle und Julieta Aranda mit ihrem 1999 gestarteten Kunst-Informationsservice e-flux erwirtschaften. Der werbefinanzierte Newsletter vernetzt die Kunstszene von New York aus global. EVR zeigt somit, wie die digitale Welt die analoge subventionieren kann: Die Rentabilität eines Onlineservice sichert den Bestand einer für den Markt irrelevant gewordenen Technik.

Für das Programm von EVR haben namhafte Kuratoren Arbeiten ausgewählt. Ihre Namen werden in der Verleihliste aufgeführt, sodass man beispielsweise problemlos alle Videos ausleihen kann, die Hans Ulrich Obrist wichtig findet oder die Stefanie Schulte Strathaus vom Arsenal-Kino beigetragen hat. In den Regalen finden sich etwa Werke von Candice Breitz, die gestern mit ihrer Einzelausstellung „Inner + Outer Space“ die Temporäre Kunsthalle am Schlossplatz eröffnete, oder von assume vivid astro focus, der anonymen Künstlergruppe, die gerade in der Kreuzberger Galerie Peres Projects eine zu den Beats von Manuel Göttschings „E2-E4“ blinkende Neondisco zeigte.

Am stärksten gefragt sind bei EVR jedoch „A Bit of Matter and a Little Bit More“ und „Water in Milk Exists“, zwei jeweils 23-minütige Filme von Lawrence Weiner, Ersterer von 1976, Letzterer aus diesem Jahr. In der Kunstwelt wird über diese selten gezeigten, auch im Video-Forum der NBK nicht verfügbaren Werke gut geraunt, immerhin kombiniert der Altmeister der Konzeptkunst in ihnen seine typischen Wortgebilde, hier in Form von Typografie-Einblendungen, mit expliziten Close-ups von lautstark kopulierenden Pärchen.

So grundlegend der Unterschied zwischen herkömmlichen Videotheken und einem Projekt wie EVR also auch scheinen mag, eines haben doch beide gemeinsam: Am besten laufen immer die Pornos.

e-flux, Platz der Vereinten Nationen 14a, Telefon: (030) 28 04 79 73, Öffnungszeiten: Do–Sa 12–18 Uhr