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Archiv-Artikel

„Was nicht ins Konzept passt, filtert die SPD-Spitze einfach weg“, sagt Franz Walter

Tausende Sozialdemokraten geben ihr Parteibuch zurück – die SPD-Führung antwortet mit einem Achselzucken

taz: Die SPD verliert dramatisch Mitglieder – allein im letzten Jahr 43.000. Warum?

Franz Walter: In der SPD selbst gibt es dafür seit langem eine trivial-soziologische Erklärung: Der Mitgliederschwund wird als Folge der Individualisierung verstanden, die dazu führt, dass die Menschen sich nicht mehr verbindlich an Kollektive binden.

Das ist ja nicht falsch.

Nein, aber unscharf. Die SPD verliert am stärksten in ihren Traditionsgebieten, im Ruhrgebiet und im Saarland. Sie verliert bei den so genannten kleinen Leuten. Das zeigt, dass sich dieses Milieu vernachlässigt fühlt. Deshalb ist die allgemeine Individualisierungsthese ein Versuch der Selbstberuhigung.

Die SPD-Spitze scheint den Mitgliederschwund achselzuckend hinzunehmen – so wie das Wetter. Warum?

Offenbar hält sie die Mitglieder für nicht so wichtig. Die SPD hat sich bei den letzten Wahlkämpfen stark von Marketingexperten beraten lassen – und in deren Blick sind Mitglieder Ballast: konservative, sentimentale Leute, die jedem Versuch, beweglich, modern und kampagnenfähig zu sein, im Wege stehen. Das ist – von Ulrich Beck bis zu Matthias Machnig inspiriert – eine wesentliche Linie in der SPD der letzten Jahre.

Ist diese Einschätzung richtig? Ist die Stammklientel bei Wahlen eher unwichtig – und die Kampagnenfähigkeit in die Mitte entscheidend?

Nein. Die Wahlforschung in Europa zeigt, dass Kampagnen funktionieren, wenn sie nicht bloß mediale Luftblasen sind, sondern von der eigenen Organisation gestützt werden. Je mitgliederstärker eine Partei ist, umso größer ist ihre Kampagnenfähigkeit – und auch die Wahlbeteiligung. Das Musterbeispiel dafür ist die CSU. Aber dieser Befund gilt von Spanien bis Norwegen. Und auch Labour und die US-Parteien, die früh auf Spin-Doctors gehört haben, sind davon wieder abgekommen und setzen stärker auf die eigenen Kernanhänger.

Und die SPD nicht?

Leider nein. Die SPD scheint sich zu FDPisieren. Die FDP hat in den 80ern Teile ihrer regionalen Fundamente verloren – und gleichzeitig unter Westerwelle ein fiebriges Avantgarde-Selbstverständnis gehabt. Eine ähnliche Realitätsverzerrung scheint es nun auch bei der SPD zu geben. Die Mitglieder sind ja Seismografen von Wirklichkeit, die gesellschaftliche Stimmungen nach oben vermitteln. Doch die SPD-Spitze hat in den letzten ein, zwei Jahren ganze Erfahrungsräume, die nicht in den medialen Reformdiskurs passen, einfach abgekoppelt. Was nicht passt, wird weggefiltert.

Wenn man sich die aktuellen Umfragen anschaut, heißt Annäherung an die FDP: Die SPD arbeitet an ihrem Projekt 18.

Na gut, ohne Kalauer kann man sagen: Die SPD hatte von den 50ern bis zu den 90ern immer Angst davor, in dem 30-Prozent-Turm gefangen und damit nicht regierungsfähig zu sein. Darum geht es längst nicht mehr. Die SPD wird froh sein können, wenn sie bei den Europawahlen nicht im 20-Prozent-Keller landet. Das Merkwürdige ist, dass die Partei diesen Absturz ohne innere Erregung, ohne Widerstand, fast wie selbstverständlich hinnimmt. Das ist neu.

Die Austrittswelle müsste auch ein Alarmsignal für die SPD-Linke sein. Offenbar gelingt es ihr nicht, dem Unmut gegen Schröder – anders als in den 70ern gegen Helmut Schmidt – Stimme und Form zu geben. Die Revolte bleibt stumm. Warum?

Weil auch die Linke Teil der sozialdemokratischen Krise ist. Jede starke soziale Bewegung bringt farbige Abweichler, interessante Ketzer und kraftvolle Häretiker hervor. Die SPD hat all dies derzeit nicht, weil sie als Ganzes so verdorrt ist. Dabei existiert ein seltsames Paradox. Im Herbst haben Umfragen ergeben, dass zwei Drittel aller Bundesbürger die Idee der SPD-Linken, die Reformen zu stoppen oder wenigstens zu korrigieren, richtig finden.

Warum nützt das der SPD-Linken nichts?

Weil es sie als handelndes Subjekt, als organisierten Kern nicht mehr gibt. Ihr fehlt eine Person, die ihre Politik zuspitzen kann. Und vor allem fehlt ihr eine Idee von sich selbst. Aus diesem Grund kann sie das massive Unbehagen an dem herrischen Reformkurs der Eliten nicht nutzen. Es reicht nicht, melancholisch auf einen Parteitagsbeschluss von 1986 zu verweisen. Es reicht nicht, zu sagen, dass die alten Rechte nicht angetastet werden sollen.

Sondern?

Gerade jede linke emanzipatorische Bewegung ist auf eine Idee des besseren Morgen angewiesen. Ohne leuchtendes Bild von der Zukunft existiert sie nicht. Die SPD-Linke derzeit erinnert eher an die Zunftbewegung des 19. Jahrhunderts, die das Alte gegen die Industrialisierung verteidigen wollte. Dagegen entstand damals die SPD. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Ottmar Schreiner & Co nun jenen Zunftbewegungen ähneln.

Und was geschieht, wenn die SPD alle Wahlen 2004 so katastrophal verliert, wie es momentan denkbar ist? Gibt es dann eine Revolte gegen Schröder?

Nein. Für eine Revolte braucht man Energie, ein Ziel und Akteure. Es gibt nichts davon. Außerdem wiederholt sich in der SPD das Paradox der letzten Kohl-Jahre. Schröder ist, wie damals Kohl, stark aus Schwäche. Der Kanzler ist unangreifbar, weil seine Partei alle Wahlen in den Ländern verliert. Deshalb ist er konkurrenzlos. Denn nur wer eine Wahl gewonnen hat, kann den Kanzler ernsthaft herausfordern. So jemanden wird es nicht geben.

INTERVIEW: STEFAN REINECKE