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Archiv-Artikel

Seminararbeiten für den Weltsicherheitsrat

Der heiße Brei

Mein Studium bekam kurzzeitig einen Sinn, als US-Außenminister Colin Powell Anfang Februar in einem Vortrag vor dem UN-Sicherheitsrat die Seminararbeit von Ibrahim al-Marashi über den Irak lobte. Er dachte zwar, es handele sich dabei um exklusive Informationen des britischen Geheimdienstes, weil die Agenten sich über einfache akademische Grundregeln hinweggesetzt und 10 der 19 Seiten aus al-Marashis Aufsatz mit dem Titel „Iraq’s Security and Intelligence Network: A Guide and Analysis“ übernommen hatten, ohne ihre wichtigste Quelle zu nennen. Aber das war mir egal.

Endlich, überlegte ich, hat es sich gelohnt, all die Jahre in staubigen Bibliotheken zu verbringen, alte zerfledderte Folianten zu wälzen und Bücher zu lesen, die außer Germanisten niemanden interessieren. Außerdem, fantasierte ich weiter, lässt sich durch diese geheimdienstliche Verwendung studentischer Elaborate mein Jugendtraum, als Agent Schurken zu schlagen, doch noch verwirklichen.

Nachdem ich auf Phoenix die Sitzung des Sicherheitsrates gesehen hatte, begann ich meine Festplatte nach Daten zu durchforsten, die über den persönlichen akademischen Nutzen des Scheinerwerbs hinaus auch für den Bundesnachrichtendienst (BND) relevant sein können. Ich habe zwar nicht wie der 29-jährige Kalifornier al-Marashi Politik studiert und bei einer Regierungsbehörde gearbeitet, bin aber der festen Überzeugung, dass auch geschichts- und literaturwissenschaftliche Arbeiten einen unverzichtbaren Beitrag zur Sicherung unseres Gemeinwesens leisten.

Auf der Suche nach brauchbarem Material stieß ich auf ein paar Aufsätze über „Prostitution und Schweinezucht in den oberdeutschen Städten. Policey und Obrigkeit im Spätmittelalter“ aus dem fünften Semester und auf eine Hausarbeit über „Legitimation und Repräsentation von Herrschaft in der Schedelschen Weltchronik“ aus dem neunten Semester. Am besten geeignet schien mir jedoch eine Arbeit über „Robert Walser und die frühromantische Theorie“. Gerade die Kurzprosa des Schweizer Autors Robert Walser liest sich nämlich mitunter wie ein Code, weil er einem, wie sein Namensvetter Martin Walser einmal bemerkte, „von Mal zu Mal die Instrumente kaputtschlägt, mit denen man ihn erklären will“. Und wie in Geheimdienstkreisen vielleicht bekannt sein dürfte, galt Robert Walser lange Zeit – eigentlich noch bis zur vollständigen Dechiffrierung seiner Miniaturschrift vor drei Jahren – als der „verdeckteste aller Dichter“ (Elias Canetti).

In einem seiner eigenen Texte, „Der heiße Brei“, hat er sein Verfahren folgendermaßen erklärt: „Man schiebt schreibend immer etwas Wichtiges, etwas, was man unbedingt betont haben will, auf, spricht oder schreibt vorläufig in einem fort über etwas anderes, das durchaus nebensächlich ist.“ Botschaften lassen sich auf diese Weise leicht durch eine scheinbar oberflächliche Geschwätzigkeit tarnen oder zwischen banalen Mitteilungen verstecken.

Der Mappe, die ich für die BND-Dependance Berlin zusammenstellte, legte ich noch Rezensionen über Marcel Beyers „Spione“ und Stephan Maus’ „Alles Mafia“ und einen alten Schulaufsatz über Friedrich Dürrenmatts Novelle „Der Auftrag oder Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter“ bei und wies – um mein selbstloses Engagement und meine unbedingte Einsatzbereitschaft zu unterstreichen – auch auf die Homepage www.hausarbeiten.de hin. Dort ist von Thesenpapieren bis zu Magisterarbeiten alles zu haben. Über 16.800 kostenlose und 7.400 kostenpflichtige Texte aus 284 Fachbereichen können eingesehen oder heruntergeladen werden.

Mein Anschreiben beendete ich mit dem hoffnungsvollen Absatz: „Für alle Schüler und Studenten ist es tröstlich zu wissen, dass Seminararbeiten nun aus ihrem Schubladendasein befreit und zu bedeutenden Dokumenten werden. Dadurch erhalten sie eine Würdigung, die dieser bisher weitgehend unbeachtet gebliebene Wissensschatz verdient. Niemand muss sich mehr über die mangelnde Aufmerksamkeit der Professoren beklagen oder darüber, dass sie in den Sprechstunden, ähnlich wie Robert Walser es beschrieben hat, um den heißen Brei herumreden, sobald man sie auf Details anspricht.

Der Weltsicherheitsrat oder auch nationale Gremien bieten ohnehin ein angemesseneres Forum als stickige, überfüllte Seminarräume, geisteswissenschaftliche Themen öffentlichkeitswirksam vorzustellen. Beim nächsten Mal werden dann hoffentlich aber auch – ganz der wissenschaftlichen Methode gemäß – die Quellen offen gelegt. Mit freundlichen Grüßen.“ Kurz bevor ich die Unterlagen abschicken wollte, las ich mir noch einmal die Bewerbungskriterien für eine Agentenlaufbahn durch. Dabei musste ich feststellen, dass man nicht älter als 28 Jahre alt sein darf, wenn man als „Angestellter für die Signalerfassung im Ausland“ arbeiten will. Nun muss ich meinen Traum, ein deutscher James Bond zu werden, wohl aufgeben. Obwohl ich die gleichen Initialen habe.

JAN BRANDT