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Archiv-Artikel

Aus dem Blickfeld

Afghanistan war gestern – seine Retalibanisierung interessiert die Antiterrorkoalition nicht mehr. Den Preis dafür zahlen Frauen mit dem Verlust gerade erworbener Rechte

Es ist entmutigend, dass die USA wegen der Irakkrise alleSpezialkräfte aus Afghanistan abziehen

Nach dem 11. September 2001 wurde die brutale Unterdrückung der Frauen Afghanistans genutzt, um den Krieg gegen das Talibanregime zu legitimieren. Damit wurde eine menschenrechtliche Problematik instrumentalisiert – obwohl nach dem Ende des Taliban-Regimes die Voraussetzungen für mehr Frauenrechte zweifellos besser waren als vorher. Jetzt aber droht eine zweite Instrumentalisierung: Die fundamentalistischen Hardliner sollen auf Modernisierungskurs gebracht werden – um den Preis, dass Frauen grundlegende Rechte verwehrt bleiben. Die westliche Gebergemeinschaft lässt zu, dass die afghanische Gesellschaft auf Kosten der Frauen befriedet wird.

So legen Meldungen wie die, dass der oberste afghanische Richter Schinwari die international anerkannte Frauenministerin Sima Samar mittels Fatwa aus dem Amt getrieben und erneut Frauen das Singen in der Öffentlichkeit verboten hatte, den Schluss nahe, dass die Frauen in Afghanistan offen oder verdeckt einer Retalibanisierung der Gesellschaft ausgesetzt sind. Nachdem Präsident Karsai Ende letzten Jahres über eine Amnestie etliche Frauen aus dem Kabuler Gefängnis entlassen hat, herrscht bei uns die Meinung, das frauenfeindliche islamistische Sexualstrafrecht gebe es in Afghanistan nicht mehr. Eine Fehleinschätzung: Dieses Recht, auf dessen Grundlage Frauen, die Opfer von Gewalt sind, als Täterinnen eingesperrt werden, ist nach wie vor in Kraft. Das Kabuler Frauengefängnis ist wieder voll belegt mit Frauen, die vor Männern geflohen waren, die sie misshandelt hatten, die von Angehörigen trotz Verheiratung in eine andere Ehe weiterverkauft oder zum Selbstschutz nach Anzeige einer Vergewaltigung bei der Polizei eingesperrt worden waren.

Für die Zukunft der Frauenrechte fürchten lässt auch, dass in diesem bettelarmen und zerstörten Land schon wieder ein gut organisiertes Ministerium für Pilger und religiöse Stiftungen arbeitet – mit einer großen Abteilung zur Überwachung der Einhaltung religiöser Vorschriften – das alleine über 290 Mitarbeiter verfügt. Man kann sich nur wundern, dass die Geberstaaten diese Entwicklung hinnehmen. Damit setzen sie sich dem Verdacht aus, die Modernisierung Afghanistans in den Bereichen Wiederaufbau sowie Wirtschaft und Finanzen voranzutreiben, die Wahrung der islamischen Traditionen und den kulturellen Zusammenhalt des Landes dagegen auf dem Rücken der Frauen und zu Lasten ihrer Rechte zu betreiben, oder dies zumindest zu dulden. Was die Sicherheit von Frauen angeht, so ermöglicht die Präsenz der internationalen Afghanistan-Schutztruppe Isaf ihnen zumindest in Kabul bei Tageslicht grundsätzlich Bewegungsfreiheit. Die Sicherheitslage in den Provinzen ist dagegen prekär.

Frauen sind nach wie vor sowohl von politisch oder ethnisch motivierter als auch von sexueller Gewalt betroffen. Diese Übergriffe werden immer noch tabuisiert, weil nicht nur die betroffene Frau, sondern die ganze Familie mit gesellschaftlicher Stigmatisierung zu rechnen hat, wenn sie bekannt werden.

Damit Frauen auf Dauer ihre Menschenrechte überhaupt einfordern können, muss die neue Verfassung unmissverständlich die Gleichberechtigung von Mann und Frau festschreiben. Afghanische Frauenrechtlerinnen sind sich darüber einig, dass die Verankerung des Gleichberechtigungsgrundsatzes neben der Vorbereitung der Verfassungs-Loja-Dschirga im kommenden Oktober Schwerpunkt der Unterstützerländer in diesem Jahr sein müssen. Dabei sind zahlreiche konkrete und praktische Maßnahmen notwendig: So lehnen es die Juristinnen vor Ort zu Recht ab, von Scharia-Light-Modellen zwangsbeglückt zu werden, die in den Ministerien der Geberländer ausgearbeitet worden sind. Stattdessen brauchen sie für den verfassungsgebenden Prozess Übersetzungen verschiedener demokratischer Verfassungen in den Landessprachen Dari und Paschtu, um selbst entscheiden zu können, welche Regelungen für ihr Land passend wären.

Für die Diskussionsphase über die Verfassung, die vom März bis zum Sommer in ganz Afghanistan stattfinden soll, brauchen die Frauenorganisationen Unterstützung materieller, aber auch ideeller Art, um den Aspekt der Frauenrechte im ganzen Land diskutieren und verankern zu können. Der Vorschlag des EU-Sonderbeauftragten Vendrell, ein öffentliches internationales Verfassungskolloquium unter Einbeziehung moderater islamischer Experten in Kabul abzuhalten, muss umgesetzt werden. Genauso wichtig ist es, zahlreiche Musterprozesse gegen das islamische Sexualstrafrecht anzustrengen, indem betroffenen Frauen tüchtige anwaltliche Vertretung gewährt wird. Rechtsberatung für Frauen muss im ganzen Land aufgebaut werden, damit sie überhaupt von ihren Rechten erfahren. Generell muss die internationale Aufbauhilfe endlich konsequent an die Menschen- und insbesondere Frauenrechte gebunden werden. Immerhin war das die ständig wiederholte Botschaft des Petersberg-Prozesses.

Genauso notwendig wie die Verankerung der Menschenrechte in Verfassung, Gesetzen, Rechtspraxis und Alltag ist in Afghanistan Sicherheit. Nichts fürchten die Menschen dort so sehr, als erneut in das schwarze Loch des Vergessens geworfen zu werden. Mit Petersberg I schien zum ersten Mal die Umsetzung eines neuen Aspekts der internationalen Sicherheitspolitik auf Erfolgskurs: das viel beschworene nation building. Wo sonst seit dem Ende der bipolaren Weltordnung hat sich die internationale Staatengemeinschaft einmütig und in kürzester Zeit auf ein gemeinsames Projekt des Wiederaufbaus verständigt und ist dabei auf freudige Zustimmung der Bevölkerung gestoßen? Allerdings ist die Sicherheitslage zerbrechlich – und die Ausdehnung von Isaf auf das ganze Land ist den Afghanen bis heute verweigert worden. Es ist bezeichnend und wenig ermutigend, dass die USA im Zusammenhang mit der Irakkrise bereits alle Spezialkräfte aus Afghanistan abgezogen haben.

Frauen, die Opfer von Gewalt sind, werden inzwischen wieder als Täterinnen eingesperrt

Die Gebergemeinschaft hat im Januar 2002 bei der Konferenz in Tokio für die Jahre 2002 bis 2006 insgesamt fünf Milliarden Euro für den Wiederaufbau zugesagt. Die Kriegs- und Folgekosten für einen Irakfeldzug werden – je nach Szenario – auf 100 bis 2.000 Milliarden US-Dollar geschätzt. Diese Relationen zwischen den Geldern, die einerseits für den Wiederaufbau und andererseits für Krieg und Zerstörung aufgewendet werden, zeigen, in welch jämmerlicher Auffassung von internationaler Ordnungspolitik wir befangen sind. Dieses Missverhältnis muss aufgehoben werden: Die finanzielle Hilfe für den Wiederaufbau Afghanistans muss nicht nur verstetigt, sondern aufgestockt, die Sicherheitslage in den Provinzen durchgreifend verbessert werden. Und die Antiterrorkoalition muss endlich Schluss machen mit der Doppelmoral. Wenn wir Afghanistan im Schatten der Irakkrise vergessen, werden die Frauen einmal mehr als erste den Preis dafür zahlen.

CHRISTA NICKELS