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Archiv-Artikel

Ach, Neoliberalismus

Gerhard Willke verteidigt klug und eingängig den Kapitalismus – und enthüllt nebenbei ebenso einleuchtend dessen Schwächen

Mit dem Neoliberalismus ist es eine vertrackte Sache. Dass er die letzte herrschende Ideologie sei und die Welt nach seinem Bilde formt, darüber herrscht in weiten Teilen der Linken – aber auch tief ins konservative Lager hinein – Konsens. Das ist insofern erstaunlich, als es doch verdammt schwer ist, einen Neoliberalen zu finden. Bis heute gibt es etwa keine ökonomische Schule des Neoliberalismus. Und doch hat der Begriff eine gewisse Signifikanz: Wird er nicht als rein vorurteilsbeladener Kampfbegriff gegen all jene gewendet, die einem nicht passen? So haben wir doch eine recht klare Vorstellung, wer ein Neoliberaler ist – die Anhänger von neoklassischen Ökonomen wie Friedrich August von Hayek und Milton Friedman, Politiker und Lobbyisten vom Schlage Guido Westerwelles und Hans-Olaf Henkels.

Diese Signifikanz der Vokabel hat wohl auch Gerhard Willke, Wirtschaftsprofessor in Nürtingen, dazu verleitet, eine Einführung in den Neoliberalismus zu schreiben, die in Wahrheit eine Philippika gegen die Kritiker neoliberaler Konzepte ist. Herausgekommen ist ein kluges und eingängiges geistesgeschichtliches Lehrbuch mit einem klaren Ziel: der Verteidigung des Marktkapitalismus.

Willkes Hauptthesen: In komplexen, ausdifferenzierten Gesellschaften ist der Markt das effizienteste System zur Vermittlung von Informationen und zum Treffen von Entscheidungen. Weit entfernt davon, fehlerlos zu funktionieren, produziert er aber allenfalls dezentrale Fehlentscheidungen, die wieder dezentral korrigiert werden und das Gesamtsystem nicht berühren. Jeder politische Eingriff ins Marktsystem provoziere zentrale und damit potenziell fatale Fehlentscheidungen.

Der Markt löst Macht auch in verstreute Entscheidungen von Marktakteuren auf und ist damit eine Versicherung gegen Machtballung. Die Politik soll die Märkte reglementierten, also gesetzliche Rahmenbedingungen vorgeben, innerhalb deren die Marktkräfte sich ungehindert entfalten können. Aus diesen chaotischen Marktkräften entsteht dann Gemeinwesen gleichsam „emergent“, vom Markt in ein Muster gebracht.

Wie weit oder wie eng diese Reglementierungen gezogen werden sollen, darüber bleibt die neoklassische Ökonomie seltsam vage – die Idee vom reinen Laisser-faire ist für sie wirklichkeitsfremd; auch gegen Systeme sozialer Sicherung hat sie wenig einzuwenden. Bloß behauptet sie regelmäßig mit großer Geste, diese Systeme wucherten aus, sodass der Markt nicht mehr funktioniere.

Was Neoliberalismus tatsächlich ist, das enthüllt Willke freilich eher nebenbei und teils unabsichtlich. Mit viel Pathos verteidigt er die Marktwirtschaft als Ordnung der Freiheit, und irgendwie bleibt der Eindruck zurück, als könnten sich die Subjekte nur am Markt als freie Subjekte begegnen. Dass eine Ausweitung der Marktzone schlecht für die Gesellschaft sei, für Haltungen wie diese hat er nur Spott parat – denn woher wolle man denn wissen, was „die Gesellschaft“ will. Als gäbe es nicht Mechanismen der Politik oder der Öffentlichkeit, mittels deren Gesellschaft auf sich einwirkt und einen Konsens darüber herstellen kann, welche Entwicklungsrichtung sie einschlagen will.

Werte werden eben nicht nur am Markt verhandelt: Dass man heute Babys oder Nieren um gutes Geld kaufen kann, ist kein Indikator dafür, wie hoch wir den Wert des menschlichen Lebens schätzen, sondern wird von den meisten eher als Ausweis sozialer Verkommenheit gesehen; ein Urteil, zu dem die Menschen durch freie Abwägung kommen. Zumindest ist diese Willensbildung so frei wie ihr Agieren am Markt, das ja auch durch Hysterie, Fehlinformation, Herdentrieb und materiellen Zwang (mit)bestimmt ist.

Bisweilen tut sich der Autor in seinem ideologischen Überschwang selbst nichts Gutes. Etwa wenn er schreibt: „So wie die Planeten sich bewegen, als ob eine ‚göttliche Hand‘ sie auf der Bahn des Gleichgewichts hielte, ebenso vollziehen sich die Marktprozesse, als ob eine unsichtbare Hand sie lenken und auf einem Gleichgewichtspfad halten würde.“

In solchen naturalistischen Schilderungen erweist sich das Ideologische in Reinkultur, unterschlägt es doch, dass ökonomische Prozesse keinen Naturgesetzen folgen, sondern Resultate von Interaktionen sind – und damit von Handlungen, die auch anders ausfallen könnten. An welcher Stelle der Umlaufbahn der Mond in drei Monaten steht, können Astronomen präzise voraussagen – den Stand des Dow-Jones-Aktienindex dagegen können nicht einmal strenggläubige Wirtschaftsliberale wie Gerhard Willke im Voraus berechnen.

ROBERT MISIK

Gerhard Willke: „Neoliberalismus“. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2003, 216 Seiten, 12,90 Euro