: Kehrt Dada heim?
Am „Nabel der Welt“ tut sich was: Das Cabaret Voltaire, legendäres Züricher Café, in dem vor 88 Jahren der Dadaismus aus der Taufe gehoben wurde, steht vor seiner Wiederbelebung an historischem Ort
von OLIVER RUF
Hinter dem Limmat liegt das Niederdorf. Ein Unterhaltungs- und Vergnügungsviertel im alten Stil, charmant und schummerig zugleich. Voll gestopft mit Spelunken, Szeneshops, Buden und klapprigen Läden. Gedenktafeln schmücken die schiefen Fronten. Vor der Münstergasse 26 führt eine schmale Flucht den Hügel hinauf. Wenige Schritte sind es in der Züricher Spiegelgasse, bis linker Hand eine Platte auf gelbem Grund ins Blickfeld rückt. Hier hängt der „Nabel der Welt“, ein quadratischer Block, in den ein fast geschlossener Kreis geschlagen und in dessen Mitte in zackiger Schrift geritzt worden ist: „In diesem Haus wurde am 5. Februar 1916 das Cabaret Voltaire eröffnet und der Dadaismus begründet“.
Dieser Tage schaut die Umgebung der Platte ausgesprochen schmuck aus. Die Hausfassade wurde frisch gestrichen, Stirn und Seite sorgsam saniert. Dunkel ist es dagegen hinter den großzügig geschnittenen Fenstern. Dennoch lässt sich durch die Scheiben Gerät von Handwerkern erkennen – und Schutt. Soll womöglich die Alte Meierei, die Künstlerkneipe, die hier vor bald neunzig Jahren beherbergt war, demnächst erneut eröffnet werden? Kehrt Dada heim?
Es waren andere Vorzeichen, als Hugo Ball und seine Lebensgefährtin Emmy Hennings im Mai 1915 nach Zürich kamen. Der deutsche Kriegswinter hatte sie ins Exil getrieben. Dort suchten sie Broterwerb und Verdienst, nutzten schließlich ihre Theater- und Kabaretterfahrung, um Engagements anzunehmen und den Lebensunterhalt zu bestreiten.
Ende 1915 entdeckte Hugo Ball die Räumlichkeiten in der Spiegelgasse 1. „Als ich das Cabaret Voltaire gründete“, notierte er später, „war ich der Meinung, es möchten sich auch in der Schweiz einige junge Leute finden, denen gleich mir daran gelegen wäre, ihre Unabhängigkeit nicht nur zu genießen, sondern auch zu dokumentieren.“ Zu Hugo Ball und Emmy Hennings gesellten sich bald andere Emigranten, Hans Arp zum Beispiel, Tristan Tzara und Marcel Janco.
Dada begann in einem kleinen Saal mit fünfzehn bis zwanzig Tischen und einer Bühne von zehn Quadratmetern, ein Raum für 35 bis 50 Besucher. Expressionistische Werke, aber auch Dichtungen italienischer Futuristen wie Marinetti und Buzzi sowie französischer Autoren wie Apollinaire, Jarry und Rimbaud wurden vorgetragen. Ein russisches Balaleikaorchester trat auf, Texte von Kandinsky, Andrejew und Nekrassow wurden vorgetragen. Es gab Vorführungen der Laban-Tanzschule mit Sophie Taeuber, Arps späterer Frau, deren Porträt heute den Fünfzigfrankenschein ziert, und eine Ausstellung von Janco-Masken.
„Während in der Ferne der Donner der Geschütze rollte“, so Arp, „sangen, malten, klebten, dichteten wir aus Leibeskräften. Wir suchten eine elementare Kunst, die den Menschen vom Wahnsinn der Zeit heilen, und eine neue Ordnung, die das Gleichgewicht zwischen Himmel und Hölle herstellen sollte.“ Ball erklärte: „Was wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind; eine Gladiatorengeste; ein Spiel mit den schäbigen Überbleibseln; eine Hinrichtung der posierten Moralität und Fülle.“ Er stellte sich im kubistischen Bischofskostüm auf die Bretter, um „Verse ohne Worte“, Lautdichtung, zu sprechen: „gadji beri bimba glandridi laula lonni cadori“ und „tressli bessli nebogen leila“ oder “hollaka hollala / … / tumba ba- umf / kusagauma / ba - umf“.
Nach nur wenigen Monaten verlagerte sich die dadaistische Betriebsamkeit vom Niederdorf in ein „besseres“ Viertel. Abendveranstaltungen fanden beispielsweise im Zunfthaus zur Waag statt, das heute noch als ein Treffpunkt der wohlhabenden Züricher Bürgerschaft gilt. Anfang 1917 zogen die Dadaisten in die Galerie Corray in der noblen Bahnhofstraße, wo nach wie vor die Hauptfiliale des Schokoladenfabrikanten Sprüngli untergebracht ist, und eröffneten am 17. März 1917 die Galerie Dada mit einer „Sturm“-Soirée.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gingen die Züricher Dadaisten getrennte Wege. Dada-Ausläufer wanderten nach Berlin, New York, Köln und Paris. Die spätere Avantgarde fußte oft auf Dada, Kurt Schwitters etwa ersann seit Anfang der Zwanzigerjahre seine Merz-Kunst in ähnlicher Weise, allerdings weniger aus politischem denn aus radikal-künstlerischem Anspruch.
In Zürich blieb das Haus Spiegelgasse 1 von alledem unberührt. Nachdem das bunte Völkchen ausgezogen war, das sich in den besseren Adressen auf der anderen Limmatseite ein ausgesuchtes, kaufkräftiges Publikum erhoffte, trudelte das Leben im Niederdorf im gewohnt geruhsamen Gang zwischen halbseidenen Amüsierlokalen, kostspieligen Touristengaststätten und jugendlichem Ausgehbetrieb.
Erst Mitte der Sechzigerjahre, am fünfzigsten Jahrestag der Gründung des Cabaret Voltaire, geriet Zürich noch einmal kurz aus den Fugen. Scheppernde Blechmusik begleitete den Zug einer ausgelassenen Menge über das Pflaster der Spiegelgasse. Schwaden grüner Papierschnipsel regneten herab, auf denen zu lesen war: „Die Schweiz ist Dada“ und: „Achtet auf Dada in euch selbst wie auf Dada in eurem Nächsten.“ An diesem Tag enthüllte der Stadtpräsident eine Gedenktafel, die Hans Arp entworfen hatte: den „Nabel der Welt“. Manche der einstigen Dada-Protagonisten gerieten ins Schwärmen. Marcel Janco triumphierte in Israel: „Dada blüht!“
Vierzehn Jahre später protestierte die Züricher Jugend erneut, palaverte durch die Stadt mit Transparenten und Sprüchen: „Freiheit für Grönland – nieder mit dem Packeis“ und „Eierkopf grüßt die letzte Eiszeit!“, tönte es in Dada-Manier. Schaufenster gingen zu Bruch, das Glas eines Lampenschirmateliers musste ausgewechselt werden.
In der folgenden Zeit wurde es aber nur deshalb wieder laut in der Spiegelgasse, weil eine Diskothek in der Meierei einquartiert war. Die Liegenschaft geriet in den Besitz von Swissville, einer Tochter der Schweizer Rentenanstalt, die beabsichtigte, Wohnungen und Geschäfte in dem stark renovierungsbedürftigen Haus einzurichten. Da war die Rede von einer Apotheke („Dada ist die beste Medizin …!“) im Erdgeschoss, obwohl Zürich bereits über die höchste Apothekendichte Europas verfügt. In den oberen Stockwerken sollten Luxusappartements entstehen. Das rief den heftigen Protest einer Gruppe junger Leute hervor, die das Gebäude im Februar 2002 besetzten und ein Kulturfest veranstalteten. Die Züricher Polizei bescheinigte den Aktivisten, dass sie keine „richtigen“ Hausbesetzer seien – und sah keinen Zusammenhang zur Antiglobalisierungsbewegung, die tags zuvor demonstriert hatte.
Beim Rathaus pfefferten Fußgänger mit Farbe gefüllte Eier auf Papierbögen. In den Räumen des einstigen Cabaret Voltaire erklangen unterdessen Didgeridoos, DJ-Platten und HipHop aus St. Gallen. Ein Mann mit wunderlichem Hut sprach von der Bühne ans Publikum: „Fingur gangari, snursuhn ahlehlifon, banarrse harlali.“
Der Wunsch dieser „Fondation Croesus pour l’Humanité“ war deutlich: Sie verlangte, das immer noch recht gut erhaltene „Dada-Säli“ sowie das ganze Haus für künstlerische Tätigkeiten herzurichten. Stadt und Rentenanstalt duldeten die Kampagne.
An den Plänen von Swissville änderte sich indes nichts. Am 2. April 2002 fuhren Bauarbeiter vor, den Hausbesetzern wurde von der Stadtpolizei eine Frist bis acht Uhr früh gesetzt. Etwa sechzig Personen verließen freiwillig das Gebäude. Laut Polizeibericht weigerte sich nur ein einziger Mann, das Haus zu verlassen. Er bewarf die Beamten mit Gegenständen und wurde festgenommen.
Die Sache war damit nicht vom Tisch. Die Stadtzüricher Sozialdemokraten SP reichten im Sommer des vergangenen Jahres eine Petition beim Stadtrat ein. Zwei Gemeinderäte ersuchten um eine Weisung, die tatsächlich durch den Apparat der Schweizer Bürokratie gelangte. Denn Swissville waren die vorgesehenen Mieter abgesprungen, die Immobilienfirma suchte einen neuen Pächter. Die Stadt Zürich hat sich mittlerweile bereit erklärt, für die auf fünf Jahre befristete Miete aufzukommen. Der Stadtrat beantragte, dem Gemeinderat dafür einen Betrag von insgesamt 1,18 Millionen Franken zu bewilligen. Der Gemeinderat stimmte zu.
Möglich wurde die städtische Entscheidung nur mit Hilfe eines Sponsors. Wegen zahlreicher Medienberichte über die Begebenheiten in der Spiegelgasse hatte der Unternehmer Nicolas Hayek jr. davon erfahren und sich für die Idee begeistert. Auf sein Engagement hin will der Uhrenfabrikant Swatch AG, dem Hayek vorsteht, für vorerst fünf Jahre jährlich 300.000 Franken geben, um im Cabaret Voltaire einen international ausgerichteten „niederschwelligen“ Kulturbetrieb zu finanzieren. Den hierfür ausgeschriebenen Architektenwettbewerb gewannen Nathalie Rossetti und Mark Aurel Wyss. Ihr Konzept beinhaltet, die Spuren im Cabaret Voltaire, das diesen Namen erneut tragen soll, nicht zu beseitigen, sondern den Rohbau im ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Für den untersten Stock, der auf die Münstergasse führt, ist eine Galerie mit Schaufenstern geplant, die der Kunsthistoriker Juri Steiner einen „synthetischen Ansaugstutzen für die Passanten“ nennt. Zurzeit kümmert er sich um die Realisierung einer umgebauten Dada-Stätte. Wann genau die Wiederöffnung in diesem Jahr stattfindet, steht noch nicht fest.
Doch ob die Dadaisten diesen Rummel gewollt hätten? Sie wären zumindest verschiedener Meinung gewesen. Während Tristan Tzara schon im Cabaret Voltaire und später in der Galerie Dada eine Bewegung, einen Ismus beabsichtigte, vermerkte Hugo Ball: „Man soll aus einer Laune nicht eine Kunstrichtung machen.“ Dass der Schabernack über die Torheit der Welt ausgerechnet in der behaglichen Beklemmung einer Züricher Altstadtgasse siegen konnte, berührte die Einheimischen weit weniger als die Exilanten.
Dada im Cabaret Voltaire war eine Sache der Zugereisten. Die Schweizer wollten das vorerst nichts angehen. Nur eine kleine Zahl Züricher verirrte sich in das Wirtshaus, die von den Aufführungen mehr Tingeltangel als Kunstspektakel erwartete. Marcel Janco erzählte nachträglich, dass die ortsansässigen Zuschauer beglückt waren, die dadaistischen Absichten aber nicht verstanden.
Wird es diesmal anders sein? Dada-Spezialist Raimund Meyer hat im Züricher Tagesanzeiger vehement Stellung bezogen: „Nur keine halben Sachen jetzt, nicht nochmals! Im Hause Spiegelgasse 1 geht es nicht um die räumliche Konservierung eines Histörchens, sondern um das Bekenntnis einer Stadt zu einem Stück prägender Vergangenheit, kultureller Vielfalt, zum künstlerischen Experiment.“
Kommt Dada nun ins Museum? Immerhin hält das Kunsthaus Zürich bereits seit langem nur wenige Schritte von der Spiegelgasse entfernt seine Dada-Sammlung bereit. Ein neu eröffnetes Cabaret Voltaire kann nur erfolgreich sein, wenn es zeigt, welcherart an den Dada-Gedanken angeknüpft werden kann, wenn es beweisen kann, dass noch avantgardistische Funken aus seinem Erbe zu schlagen sind. Wer braucht ein stummes Dada-Erbe? Kreativ muss es sein!
OLIVER RUF, 26, lebt als Autor in Trier