: Neue Münchner Freiheit
„Wenn Lachwellen durch den Raum gehen, ist das wie eine Art Rausch“: Die Literaturszene in München ist in Bewegung. Immer mehr Bars und Kneipen geben modernen Heimatdichtern wie Tibor Fredmann, Poetry-Slammern wie Jaromir Konecny und anderen jungen Autoren eine Bühne zum Austoben
von JAN BRANDT
München liegt am Meer. Im Hafen, gegenüber der Staatskanzlei, werden Frachtschiffe entladen und Passagierdampfer für die nächste Fahrt startklar gemacht. Nach Feierabend marschieren die Matrosen ins Gärtnerplatzviertel und mischen sich unter die Landbevölkerung. Von diesem und anderem Seemannsgarn sind die Erzählungen des Münchner Autors Tibor Fredmann. Er bezeichnet sich als „modernen Heimatdichter“, schreibt über Schwabinger Biergärten, Ufos über Untergiesing und einen bayrischen Ministerpräsidenten namens Eddi, der in seiner Jugend Elvis und die Beatles verehrte, sich aber nicht entschließen konnte, so zu werden wie sie.
Die Realität dient Tibor Fredmann nur als Fundament für seine schrägen, überdrehten Geschichten. In seinem ersten Buch „Die Helden von Wahnmoching“ beschreibt er den „Wahnsinn eines zu groß geratenen Dorfes, das sich fälschlicherweise als Weltstadt tituliert“, und in dem Erzählband „Treffpunkt Watussi Bar“ geht es um die Arroganz neureicher Snobs und die Verzweiflung spaßhungriger Nachtschwärmer.
„Wahnmoching“ und die „Watussi-Bar“ sind fiktive Orte, Sehnsuchtsorte, Glück verheißend und unerreichbar. Auch Tibor Fredmann gibt es nicht wirklich. Der Name ist ein Pseudonym. Fredmann gehört zu einer neuen Münchner Szene, die der traditionellen Literaturvermittlung den Kampf angesagt hat. Sie schafft sich wie die Lesebühnen in Berlin ihre eigene Öffentlichkeit, tritt in Kneipen und Bars auf und verlegt ihre Texte in Kleinverlagen, die subVers, blumenbar oder yedermann heißen und längst über die Nische hinaus bekannt sind.
Manche Veranstaltungen, wie Europas größter Poetry Slam im „SubsTanz“, sind so beliebt, dass viele Besucher draußen warten müssen, bis einer der 350 Gäste den Raum verlassen hat. Zehn Autoren treten an diesem Sonntag auf. Fünf kommen aus der offenen Liste, fünf sind gesetzt, unter ihnen Matthias Politicky und der Wladimir Kaminer Münchens, Jaromir Konecny. Die Luft ist dünn und verraucht. Politickys Prosaminiaturen mit Titeln wie „Der Männerbeauftragte vom Nebentisch genehmigt sich sein Erstes“ und „Der Bierschiss“ sind kunstvoll und kurzweilig. Trotzdem wird der gebürtige Tscheche Konecny mit seinem böhmisch-bayrischen Akzent vom grölenden Publikum ins Finale geklatscht. Zum 50. Mal.
Konecny gehört zum Inventar. Seit 1996 tritt er regelmäßig im „SubsTanz“ auf und erzählt den Schülern und Studenten vom „Geschlechtsleben der Emigranten“. Seine Biografie ist ebenso aberwitzig wie seine Geschichten. Er wurde 1956 in Prag geboren, arbeitete eine Weile als Techniker in Libyen und war Schiffmeister bei der tschechischen Elbe-Oder-Schifffahrt. Anfang der Achtzigerjahre kam er in die Bundesrepublik, studierte Chemie und schrieb seine Doktorarbeit über die Entstehung des genetischen Codes.
„Er ist der Mann in München“, sagt Ko Bylanzky. Kaum ein anderer Autor hat so viele Slams gewonnen wie Konecny, und kaum ein anderer Organisator ist so umtriebig wie Ko Bylanzky. Im Gegensatz zu Konecny ist Bylanzky gebürtiger Münchner. Weil ihm seine bürgerliche Herkunft zu langweilig erschien, hat er sich Mitte der Neunzigerjahre nach dem Bundesligaprofi Andrzej Kobylansky benannt.
Bylanzky wirkt, als stehe er ständig unter Strom. Seine Worte überschlagen sich beim Sprechen, und sein Kopf wippt bei den Ansagen immer vor und zurück. Neben dem Poetry Slam im „SubsTanz“ und der „Lauschlounge“ in den Kammerspielen ist der 31-Jährige auch an der Lesereihe „Speak & Spin“ beteiligt, die seit 2000 alle zwei Wochen im „GAP“ stattfindet. Das „GAP“ ist eine Bar, die aussieht wie eine Garage mit Fenstern. Aber innen gibt es keine Autos zu bestaunen, sondern Autoren wie Tibor Fredmann. Seine Texte werden hier mit einem Beat unterlegt, und die Kombination von Musik und Mundart entwickelt bei ihm einen eigenwilligen, mitreißenden Sound. Für Fredmann ist Schreiben ein Lautakt, jedes Wort muss dem Vorlesen standhalten können.
Auch Konecnys im bayrischen Slang vorgetragene Erzählung „Das traurige Ende des Märchenkönigs“ entfaltet seine Wirkung vor allem durch die Live-Performance. Es geht darin um die letzten Fans von Ludwig II. und Alkoholiker, die ihren Zigarettenkonsum mit acht Flaschen Bier auszugleichen versuchen. „Ich quatsche gerne“, sagt Konecny später, „und wenn Lachwellen durch den Raum gehen, dann ist das wie eine Art Rausch“.
Fredmann und Konecny sind Einzelgänger. Schriftstellergruppen, die regelmäßig in der gleichen Zusammensetzung auftreten, wie „LSD - Liebe statt Drogen“, „Die Chaussee der Enthusiasten“ und „Heim & Welt“ aus Berlin oder der Hamburger „MACHT e. V. Club“, gibt es in der bayrischen Landeshauptstadt nicht. Deshalb werden Vorleser aus ganz Deutschland gecastet, um den Münchnern einen Hauch von Subkultur und literarischer Exotik zu vermitteln. In Haidhausen, unweit der Paulaner Brauerei und dem „Senftl Stüberl“, liegt die Kneipe „Kilombo“. Seit Oktober 2001 veranstalten Tina Rausch und Bernhard Schneider hier viermal im Jahr eine Lesereihe namens „Geschichten aus der großen Stadt“. Jede Lesung, die vom Jugendmagazin „Zündfunk“ des Bayrischen Rundfunks aufgezeichnet wird, steht unter einem Motto: „Metropole Spezial“, „Wien Mitte“ oder „Hansestadt Hamburg“. Das Fehlen einer großen Zahl eigener Autoren wirkt umso seltsamer, wenn man bedenkt, dass München mit 234 Buchunternehmen und fast 9.000 Titeln pro Jahr hinter New York die zweitgrößte Verlagsstadt der Welt ist. Hanser, Random House, Heyne, C. H. Beck, Kunstmann und Piper haben ihre Büros an der Isar. Nur Ullstein zieht bald zurück an die Spree. Gedruckt wird in München, geschrieben im Rest der Republik, vor allem in der Hauptstadt. Tina Rausch und Bernhard Schneider haben sich die Lesekultur Berlins zum Vorbild genommen. Zusammen organisieren sie auch das „1. Münchner Kantinenlesen“. Es findet am Hochufer der Isar statt, im Gasteig, einem Kultur- und Veranstaltungszentrum, das an einen Mormonentempel aus Backstein erinnert. Hier ist die Volkshochschule untergebracht, die Stadtbibliothek, das Richard-Strauss-Konservatorium und die Philharmonie. Leonard Bernstein bezeichnete das Bauwerk einmal als die schlimmste Halle, in der er je dirigiert habe, und riet der Stadt kurz nach der Eröffnung 1985: „Burn it!“. Aber bisher hat niemand seinen Vorschlag umgesetzt.
Vier Autoren aus Berlin treten nacheinander ans Mikrofon. Volker Strübing, Jochen Schmidt, Ahne und Kirsten Fuchs sind gekommen, um ihre absurden Alltagsgeschichten vorzutragen. Die Gasteigkantine ist überall sauber und ordentlich ausgeleuchtet. In der Ecke stehen Gummibäume, und um die Resopaltische sitzen Zuhörer, die sich nicht trauen, die vorgegebene Struktur aufzubrechen. Das Publikum besteht aus gut angezogenen, gesund aussehenden Menschen und einer Fraktion alter Frauen, die sich Plätze vor der Bühne reserviert hat. Kirsten Fuchs, die Gewinnerin des 11. Open Mike und Mitglied der Lesebühne „Erfolgschriftsteller im Schacht“, liest eine Geschichte über Liebeskummer. Darin streift eine verzweifelte junge Frau durch ihre Berliner Altbau-Wohnung. Sie hat nicht nur ihren Freund, sondern auch den Appetit verloren. Und um nicht zu kollabieren, versucht sie, sich von Getränken aller Art zu ernähren. Die Methode hat jedoch unangenehme Nebenwirkungen: „Von kaltem Tee bekomme ich Durchfall, danach sprühe ich im Bad Waldduft. Es riecht, als ob jemand in den Wald geschissen hätte.“ Am Schluss gibt es eine Zwangszugabe.
Volker Strübing singt selbstbewusst von einer besseren Welt, obwohl er nicht singen kann. Die Frauen aus der ersten Reihe verziehen das Gesicht und nicken sich zu, als hätten sie von Anfang an gewusst, dass die Hauptstadt nicht vorteilhaft für die Entwicklung ihrer Enkelkinder sei. Vielleicht denken sie in diesem Moment an die ruhigen, klassischen Lesungen im Literaturhaus, an „Lesungen mit Tisch und Stuhl und Wasserglas“, wie Ko Bylanzky verächtlich sagt. In der prachtvollen Festung des Bildungsbürgertums ist man aber auch nicht mehr vor alternativen Veranstaltungen sicher. Die Galerie im Erdgeschoss täuscht zur Zeit mit einer Ausstellung zum 75. Geburtstag des Kritikers Joachim Kaiser uneingeschränkte Hochkultur vor. Kurz zuvor sind hier jedoch noch junge Menschen zur Musik von DJ Michi Mettke auf Sitzkissen durch einen bunt erleuchteten Raum gerutscht.
Die Veranstaltung, die einmal im Monat stattfindet, heißt „bewegungsfreiheit“. Auf drei runden, verschiedenfarbigen Bühnen treten abwechselnd Autoren wie Larissa Boehning oder Andreas Neumeister auf. Es ist ein bisschen wie in der legendären Fernsehshow „Musikladen“: Das Spotlight illuminiert immer wieder ein anderes Podest. Das Publikum wendet sich dem Licht zu, die menschlichen Cluster an den Säulen lösen sich auf, Verschiebungen finden statt, kleine Veränderungen, die eine neue Perspektive ermöglichen. „Wir wollten keine Off-Szene-Bühne“, sagt die 28-jährige Organisatorin Christina Berr, „ein Schmuddelsofa hätte nicht gepasst.“
Das Literaturhaus ist in München schließlich eine Institution. Und um sich nicht immer an Berlin zu orientieren, versucht man inzwischen in Schreibseminaren, die „textwerk“, „WorDshop“ und „manuskriptum“ heißen und von Verlegern und Lektoren betreut werden, eigene Autoren auszubilden. Altes und Junges, Eigenes und Fremdes wird vermischt, um etwas Originelles entstehen zu lassen. Die Adaption ist Teil einer neuen Münchner Freiheit, die traditionelle und unkonventionelle Formen der künstlerischen Darstellung kombiniert. Noch ist der Kulturaustausch ziemlich einseitig, aber Jaromir Konecny ist zuversichtlich, dass trotz eines Mietpreises von 10 bis 12 Euro pro Quadratmeter immer mehr Künstler herziehen werden. Seiner Ansicht nach stammt ohnehin fast jeder richtige Münchner aus Berlin.