: Verunsichernde Grundsicherung
Seit Januar haben arme RentnerInnen Anspruch auf eine Grundsicherung statt Sozialhilfe. Doch nur ein geringer Teil der AntragstellerInnen hat wirklich Aussicht auf Leistungen. Dennoch: Die Sicherung gegen verschämte Armut erfüllt ihren Zweck
aus Dresden MICHAEL BARTSCH
Genau 99 Antwortfelder enthält ein Antrag auf Leistungen nach dem neuen Grundsicherungsgesetz, das seit Jahresbeginn in Kraft ist. Doch nach ersten Schätzungen des sächsischen Sozialministeriums und des Dresdner Grundsicherungsamtes haben sich neun von zehn SeniorInnen die Mühe des Ausfüllens und der Beibringung aller Belege vergeblich gemacht.
In Dresden etwa haben bisher etwa 7.000 Personen Anträge gestellt. Ermuntert worden waren sie durch Anschreiben ihrer Rentenversicherungsträger. Und das durchaus zu Recht, weil ihre Renten unterhalb der gesetzlichen Antragsgrenze von 844 Euro im Monat bleiben. Doch die meisten von ihnen erwartet irrtümlich so etwas wie eine neue Mindestrente in dieser Höhe. Immer wieder müsse sie erklären, dass Grundsicherung keinesfalls die Aufstockung der bisherigen bescheidenen Rente auf diesen Betrag bedeutet, sagt Beatrice Bellée vom neuen Dresdner Grundsicherungsamt.
Der tatsächliche Leistungsanspruch wird nach den Sozialhilferichtlinien berechnet. Denn die Grundsicherung ist nichts anderes als eine modifizierte Sozialhilfe und wird wie diese „bedürftigkeitsabhängig“ gezahlt. Der „Grundbedarf“ aber wird vor Ort ermittelt und liegt nur im Höchstfall bei 844 Euro. In Ostdeutschland etwa beläuft er sich einschließlich der Kosten für Unterkunft, Heizung und Versicherungen auf etwa knapp 600 Euro. Nur wessen Gesamteinkommen unter dieser Grenze bleibt, kann Grundsicherungsleistungen erwarten.
Die große Mehrheit der enttäuschten Antragsteller dürfte über ein Einkommen zwischen dem Grundbedarf und den 844 Euro verfügen. In München beispielsweise liegt wegen der höheren Sozialhilfe-Regelsätze und der sagenhaften Wohnungsmieten der Grundbedarf bei mindestens 700 Euro. Nach Angaben des dortigen Sozialamtes dürfte immerhin ein Viertel der bislang 5.000 Antragsteller Erfolgsaussichten haben. Zur Einkommensberechnung werden wie bei der Sozialhilfe Vermögen, Grundbesitz und das Einkommen des Lebenspartners herangezogen.
Die meist lückenlosen Erwerbsbiografien ehemaliger DDR-Bürger bedingen ohnehin relativ hohe Rentenansprüche. Der Kreis der Leistungsberechtigten schrumpft so weiter. Das könnte sich angesichts der wachsenden Arbeitslosigkeit aber bald ändern. „Es ist ein Gesetz für die Zukunft“, meint deshalb Beatrice Bellée, wenn auch nicht für eine besonders frohe. Denn die wachsende Altersarmut kann so zumindest teilweise aufgefangen werden.
Einen Erfolg hat das Gesetz absehbar allein durch den bloßen Etikettenwechsel vom „Sozialamt“ zum „Grundsicherungsamt“ erzielt. „Viele haben aus Scham den Gang zum Sozialamt gescheut oder wollten nicht, dass ihre Kinder zahlen müssen“, weiß Beatrice Bellée aus ihrer Erfahrung im Sozialamt. Diese Menschen hat man nun offenbar erreicht: Knapp jeder Fünfte, der einen Antrag auf Grundsicherung stellte, war bislang noch nicht registriert oder bezog nur gelegentliche Hilfe zum Lebensunterhalt. Für diese in „verschämter Armut“ Lebenden senkt das Gesetz die Schwellen. Statt einzeln zu beantragender Hilfen für einen Winteranorak oder Möbel gibt es jetzt eine monatliche Pauschale, die in Sachsen 41,85 Euro beträgt.
Ein weiterer Vorteil: auf Unterhaltsverpflichtete wird nur dann zurückgegriffen, wenn sie mehr als 100.000 Euro im Jahr verdienen. Ähnlich entlastet werden Eltern erwachsener und dauerhaft arbeitsunfähiger Behinderter. Sie berichten allerdings von Anträgen, die zwischen ihnen, dem Heim, der Landesversicherungsanstalt und dem Landeswohlfahrtsverband umherirren, wobei unklar bleibt, welche Leistungen eigentlich zu erwarten sind.
Verwirrung unter Antragstellern entsteht auch, weil Sozialamt und Grundsicherungsamt weiterhin parallel arbeiten und Akten teilweise doppelt führen. Hilfe für besondere Lebenslagen, Pflegegeld oder Blindenhilfe werden weiterhin vom Sozialamt gezahlt. Der Begriff vom „Grundverunsicherungsgesetz“ macht deshalb schon die Runde.
Die Sozialbürokratie ist also keinesfalls entlastet worden. Im Gegenteil: Dresden hat 16 Stellen im Grundsicherungsamt einrichten müssen. Die kosten die Stadt einschließlich der Sachkosten etwa 700.000 Euro zusätzlich, was nur durch Personalumsetzungen auszugleichen war. Der Bund nämlich übernimmt nur die Aufstockung des Topfes, aus dem die Grundsicherung gezahlt wird, um weitere Kosten schert er sich nicht. Deshalb klagen auch zahlreiche deutsche Städte vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Gesetz.