So geht das nicht

Harald Martenstein und Rainer Erlinger luden zur ersten „Moralshow“ ins Deutsche Theater

Berlin ist knapp zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer zwar noch nicht die glanzvolle europäische Hauptstadt geworden, von der alle Metropolenbeschwörer in den Neunzigern träumten, doch muss man feststellen, dass es immer öfter Spektakel gibt, die den Betrachter glauben machen, dass es einen Vorschein von neuer bürgerlicher Kultur in der vor Kurzem noch vollständig durchproletarisierten Stadt gäbe. Die, die gestern noch Kleinkunsthallen und illegale Bars betrieben, haben heute Großkunsthallen und legale Bars, entsprechend wollen sie nun auch ganz bürgerlich daherkommen. Die Zeitungen aus Frankfurt, Hamburg und München, die hier Hauptstadtbüros eröffnet haben, schickten Leute her, die eine richtige Oper schon mal von innen gesehen haben. Berlin hat also eine kleine bürgerliche Schicht bekommen. Und die drängt nach vorn.

Ein sicheres Zeichen für diese neobürgerliche Kultur ist die Häufung der Kolumnen, die in Berlin verfasst werden und vermuten lassen, Berlin habe München zumindest als Kolumnenhauptstadt abgelöst. Allerdings wird in München, wo das Bürgertum sich qua Tradition noch einen Rest bürgerlicher Würde bewahrt hat, von den Kolumnisten nicht einfach nur behauptet, man stehe in der Tradition von Kracauer, Polgar oder Altenberg, sondern man versucht dort deren Stil immerhin zu imitieren.

Dieser zarte Unterschied zeigte sich deutlich in den Kammerspielen des Deutschen Theaters, in das Rainer Erlinger und Harald Martenstein zu ihrer „Moralshow“ einluden, einer Veranstaltung, mit der nun monatlich in Berlin moralische Alltagsfragen geklärt werden sollen. Der Münchener Arzt und Jurist Erlinger behandelt diese Fragen in seinen Kolumnen im Radio und in der Süddeutschen Zeitung, Martenstein ist für seine Kommentare zu allem und jedem bekannt.

Schon zu Beginn der Show erklärte Erlinger lächelnd, dass er für „die Moral“, Martenstein aber für „die Show“ zuständig sei. Was als Witz gedacht war, erwies sich als wahr. Erlinger war freundlich belehrend, gemahnte an Platon oder die katholische Kirche, während Martenstein, dem die Clownsrolle sichtlich gefiel, heiter seine Meinung darbrachte, die sich nie von der der Mehrheit der Zuschauer unterschied. Die Kammerspiele waren gut gefüllt, das Publikum in Lachlaune. Es ging um die Frage, ob man an einer roten Ampel stehen bleiben muss, wie man den Friseur wechselt, ob man das Telefon nicht abheben darf, auch wenn man zu Hause ist, und dergleichen Belanglosigkeiten mehr.

Und obwohl Martenstein sich in einem Schmähtext als Theaterkenner ausgab, wusste er am Ende der Show nicht, dass man die Bühne verlassen muss, um dann erneut nach vorn treten zu können. So zwang er auch Erlinger, auf der Bühne zu bleiben, bis das Publikum des Klatschens schnell überdrüssig wurde. Martenstein schmähte in ebendiesem letzten, offenkundig vorgezogenen Text das Theater für die Inszenierung der immer gleichen Rebellion. Er selbst jedoch und sein Kollege inszenierten ihre bescheidene Bekanntheit, indem sie sich nicht sonderlich abgesprochen hatten. Sie lasen Glosse nach Glosse und verfielen dann in eine manchmal sogar peinliche Diskussion darüber, inwieweit diese Texte jetzt zum Thema passten und was genau das Thema war. Martenstein sagte „ich“, Erlinger verwies auf die Philosophie. Wie eintönig das war, bemerkten sie nicht.

Das Berliner Publikum jedoch, da es das bürgerliche Prinzip, dass Lohn Leistung erfordert, noch längst nicht auch auf die Kunst übertragen hat, bewertete die Show freundlich. Die Buhrufe, die ein altes Bürgertum nicht hätte unterdrücken können, kamen in diesem selbst ernannten neuen Bürgertum nicht auf. „Der Harald und ein Promi aus dem Radio, das muss ja irgendwie gut sein“, so sagte man sich und schleppte sich alsdann müde heim. JÖRG SUNDERMEIER

Nächstes Mal am 12. 12., 21.30 Uhr