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Archiv-Artikel

Stalin, der Sinnstifter

„Jeder kann sich seinen Stalin raussuchen und zusammensetzen“

aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH

Ein ruhiger, vom Alter kaum gezeichneter Jossif Wissarionowitsch schaut gütig, geduldig, Pfeifchen schmauchend auf die Wartenden herab. Seit Tagen bilden sich unter dem Porträt des Vaters der Völker immer wieder kleine Ansammlungen. Aus allen Teilen Russlands pilgern Besucher nach Moskau ins ehemalige Revolutionsmuseum. Das nämlich hat anlässlich des 50. Todestags des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, KPdSU, dem Menschen Stalin eine Ausstellung gewidmet: „Stalin, Persönlichkeit und Symbol“.

Die Fotoapparate klicken. Ein Gruppenbild mit Stalin, dieser Verlockung widersteht kein Besucher. Auch die drei Pensionäre aus dem zweihundert Kilometer entfernten Tula nicht. Sie waren ungefähr zwölf Jahre alt, als Stalin am 5. März 1953 starb. Sie können sich an vieles nicht mehr so recht erinnern. Und doch steht für sie fest: Auch Stalins Rolle muss man objektiv sehen. Das meint Rentner Wassili, während er versonnen auf die dauerhafte Symmetrie des Stalin’schen Schnauzbarts schaut. Objektivität angesichts von Millionen willkürlich ermordeter Menschen? Eine Herausforderung. Aber viele Ausstellungsbesucher scheinen sie überhaupt nicht als solche zu begreifen. Sie sehen sie als Selbstverständlichkeit.

Eigentlich hätte Russland heute einen triftigen Anlass, sich aus wirklich gutem Grund hemmungslos zu betrinken. Es ist geschafft – ein halbes Jahrhundert ohne Diktator! Eine Errungenschaft, die in der russischen Geschichte ihresgleichen sucht. Aber Russland bleibt trocken, ja erschreckend nüchtern geradezu. Wieso? Schaut Stalin immer noch zu?

Stalin, der als Generalsekretär der Kommunistischen Partei (Bolschewiki) 1928 die Kollektivierung der Landwirtschaft anordnete und Millionen Bauern in den Hungertod trieb. Stalin, der fast zur gleichen Zeit die Industrialisierung verfügte und Millionen Menschen aus ihren Lebensbezügen herausriss. Der ein Lagersystem aus dem Boden stampfte, um diese industriellen Großprojekte mit Hilfe von Millionen von Gefangenen zu bewältigen. Der Parteiführer, der in den 30er-Jahren die KP mit Säuberungen überzog, die alte revolutionäre Elite liquidierte und anschließend die Reihen der Roten Armee lichten ließ. Der Generalissimus, der 1945 Hitler besiegte, aber Millionen eigener Soldaten sinnlos verheizt hatte. Der Vater der Völker, der unzählige kleine Völkerschaften deportieren ließ und kurz vor seinem Tod mit den „Ärzteprozessen“ noch eine antisemitische Säuberungskampagne entfachen wollte.

Im Foyer unterhalten sich zwei ältere Herren über den respektlosen Umgang mit der Geschichte. Erbarmunglos werde sie heute von den so genannten Demokraten „gegen die Kommunisten umgeschrieben“, sagt der verdiente Agraringenieur. Ein gängiger Vorwurf im letzten Jahrzehnt. Aber jetzt, unter Putins Ägide? Der Präsident gab Russland Stalins Nationalhymne zurück. Die Armee darf sich wieder mit roten Sternen schmücken, und in Wolgograd bemühen sich die Politiker, die Stadt in Stalingrad umzubenennen. Das Massenblatt Komsomolskaja Prawda startete vor einem Monat eine neunteilige Serie über Stalin. Auch sie gibt vor, sich um Objektivität zu bemühen. Dazu lässt sie Historiker zu Wort kommen, die so etwas wie eine „Gulag-Lüge“ verbreiten. Lager – die soll es im sowjetischen Völkerparadies gegeben haben?, fragt man sich nach der Lektüre.

Keine Panik also, meine Herren Agraringenieure. Der gegenwärtige Zugang zur Geschichte ähnelt wieder dem Ihren, Sie haben es nur noch nicht bemerkt.

Auf Objektivität und nüchterne Präsentation der Fakten legt auch das Kulturministerium, unter dessen Kuratel die Ausstellung stattfindet, wert. Die Ausgewogenheit beherrscht bereits die Verteilung der Exponate im ersten Saal. Links präsentiert sich das Regime, und hier sind Stalins persönliche Devotionalien zu sehen, rechts gegenüber hat die Gesellschaft „Memorial“ die Wände beschlagnahmt. Memorial ist eine der wenigen Nichtregierungsorganisationen im Lande, die unermüdlich die Geschichte der Lagerinsassen, Unterdrückten und Ermordeten erforscht. Und es nicht unterlässt, die gegenwärtigen Greueltaten der Armee in Tschetschenien zu kritisieren. Das macht sie bei den Vertretern der Macht nicht gerade beliebt, man toleriert sie wegen ihrer guten Westkontakte. In Petersburg entdeckten Mitarbeiter von „Memorial“ kürzlich Totenfelder, auf denen zigtausende Menschen hingerichtet worden sind. Memorial gräbt, wird behindert, gräbt weiter, doch was sie schließlich ans Licht holt, wollen nur wenige sehen und wissen.

Das Rechts-links-Schema der Ausstellung, vermutet der 35-jährige Historiker Pawel Schmoljakow, appelliere an den „gesunden Menschenverstand“ und suggeriere: Die Wahrheit liegt in der Mitte … Der Totalitarimus hat aber keine Mitte, zwischen Unterdrückern und Unterdrückten gab es in der Sowjetunion keine Distanz. Die Unterdrücker waren nicht Eroberer, die Land und Leute unterjocht haben.

Gerade die Nähe, oft sogar die Personalunion von Opfern und Tätern, erschwert eine nüchterne Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte in Russland. So konnte im Geburtsland der bolschewistischen Revolution das Schwarzbuch des Kommunismus nicht einmal eine Auflage von 5.000 Exemplaren verkaufen.

Das Fehlen eines klaren Konzepts in der Ausstellung scheint daher beabsichtigt. Von allem findet sich etwas. „Jeder kann sich seinen Stalin raussuchen und zusammensetzen“, meint Schmoljakow. Die Verehrer des Generalissimus haben es dabei leichter, sich zu orientieren. Die Hinweise auf Willkür, Mord und Gesetzlosigkeit entdeckt meist nur der kundige Besucher. Die meisten Exponate sind Geschenke an den großen Führer. Selbstgebasteltes, wie der ein Meter hohe, dem Spaski-Turm des Kreml nachgebildete Radioempfänger. Die Indianer Nordamerikas wählten Koba, so Stalins vorrevolutionärer Spitzname unter den Bolschewisten, in den 40er-Jahren zum Ehrenhäuptling aller Stämme und bedankten sich mit einem Federschmuck. Oder Dankesbekundungen wie der Brief einer Drittklässlerin an den Generalsekretär. Dank seiner Verfügung, die sie mit ihren Freundinnen in der Prawda aufmerksam gelesen habe, seien Schreibhefte jetzt frei erhältlich, ohne dass man dafür Schlange stehen müsse …

Die meisten Besucher sind 50 Jahre oder älter, für Moskauer Verhältnisse ärmlich gekleidet. Ein Pulk belagert die Videovorführung mit den Trauerfeierlichkeiten in Endlosschleife. Sind sie ihrer Jugend auf der Spur, oder sehnen sie sich nach einem neuen Stalin?

Umfragen ergaben, dass 37 Prozent Stalins historische Leistung positiv, 29 Prozent sie negativ bewerten. Ein Drittel wusste nicht so recht. Die Apologeten decken sich in etwa mit dem Anteil der Rentner von rund einem Drittel in der russischen Gesellschaft. Der Historiker Igor Kljamkin liest aus den letzten Untersuchungen etwas Ermutigendes heraus. Immerhin halten es nur noch 10 Prozent für unzulässig, den Präsidenten – Wladimir Putin – zu kritisieren. Stalin, so Kljamkin, habe mit der Ausrottung des russischen Archetyps, der Bauernschaft, selbst für die Zukunft den Boden für einen neuen Persönlichkeitskult entzogen. Und der blühende Kult um Putin? Das seien Übergangsphänomene, meint Kljamkin, die dem Weltbild der Bürokratie entsprächen und von ihr gefördert würden.

Die Beamtenschaft und die politische Elite halten die gesellschaftlichen Entwicklungen zurzeit auf. Zwei Drittel der Bevölkerung haben inzwischen einen protestantischen Wertekanon angenommen, obwohl sich 57 Prozent zur orthodoxen Kirche bekennen, die in einem fast mittelalterlichen Einheitlichkeitsverständnis verharrt. Individuelle Freiheit ist für die meisten Russen nunmehr ein hohes Gut.

Darin sind sich die meisten Beobachter einig: Stalins Totalitarismus hat ausgedient, autoritäre Führerfiguren könnten vorübergehend aber wieder eine Chance erhalten. „Vorübergehend“, darauf legt Kljamkin Wert.

Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass Bürokratie und Elite an einem entschärften Stalinbild werkeln. Stalin, der Konsolidator des Sowjetimperiums, Sieger im Vaterländischen Krieg, Hitler-Bezwinger und Gosudar – also Staatenschöpfer und Lenker.

Als Peter I. starb, war Russlands Bevölkerung um ein Fünftel dezimiert und die Staatskasse geplündert. Heute verehrt Russland Peter den Großen wie keinen anderen Gosudar. Stalins Nachruhm könnte eines Tages ähnlich aussehen. Voraussetzung indes: Es gelingt, ihn vom marxistisch-kommunistischen Makel zu befreien. Diesem Zweck dienen zurzeit alle Aktivitäten rund um den Massenmörder aus Georgien. Die Zeit des Postkommunismus hat kein symbolisches Kapital geschaffen, auf das die jetzige Macht sich beziehen könnte, der Parteikommunismus ist diskreditiert, so wird Jossif Dschugaschwili blank geputzt und zum Sinnstifter erkoren. Mit weißer Weste, Pfeife und gutmütigem Lächeln.