Der Zeitgeist beginnt zu erfassen...

Offener Brief von Klaus Huber, letztjähriger Friedenspreisträger der Villa Ichon, an seinen Nachfolger Martin Rooney

Kultur- und friedensgeehrter Doktor Martin Rooney, es scheint, dass Sie nach wie vor den Friedenspreis der Stiftung Villa Ichon im weltgeschichtsträchtigen Jahr 2003 entgegenzunehmen bereit sind und die inzwischen erfolgte Absage des Festaktes für „eine Schikane“ halten. Als Preisträger der Stiftung im Jahr 2002 kann ich mir einen solchen Mangel an Schamgefühl nur damit erklären, dass die um sich greifende Polarisierung weltweiten Sinnverlustes in Bezug auf das, was Frieden im genauen Wortsinn meint, inzwischen allzuweit fortgeschritten ist (...)

Sicherlich bleibt es Ihnen unbenommen, eine lokale Friedensdemonstration nach den Inhalten ihrer Spruchbänder vom Bürgersteig aus abzusuchen. Aber, bevor Sie sich zu Bemerkungen wie „hyperemotionaler Antiamerikanismus“ oder „Ignoranz der Demonstranten gegenüber den wirklichen Gefahren für die Krisenregion“ hinreißen lassen, sollten Sie zur Kenntnis nehmen, was es meinen könnte, wenn an einem einzigen Tag, dem 15. Februar 2003, weltweit 110 Millionen Menschen (diese Zahl brachte CNN!) in 603 Städten, 72 Ländern sich zusammenfinden, um immer das eine zu wiederholen: No war – no alla guerra, senza se e senza ma – Not in my name – PEACE. (An diesem Tag zog ich mit den ManifestantInnen durch Rom; wir waren 3 Millionen, aus ganz Italien.) Es war die weltumfassendste, menschenreichste Demonstration aller Zeiten. Man soll bitte nicht versuchen, ein solches Ereignis als Antiamerikanismus oder gar Antisemitismus umzuinterpretieren.

Der Beweggrund ist viel transparenter, als Sie es unterstellen wollen. Das Weltbewusstsein, der Zeitgeist beginnt zu erfassen, dass die Hochtechnologisierung der heutigen Waffensysteme, die sich in erdrückender Übermacht in unseren eigenen Händen befinden, den Anspruch auf Realisierung eines Welt-Imperiums mit diesen militärischen Mitteln nicht mehr zulässt, ohne die Selbstzerstörung der Menschheit in Kauf zu nehmen. Diese Menschheit beginnt aufzuwachen und sagt: „Not in my name – un altro mondo e possibile.“

Sicher sind Sie durch Ihre Hauptinteressen notwendigerweise besonders stark in der Geschichte verhaftet. Das kann aber nicht heißen, dass es Ihnen deshalb erspart bliebe, unsere Gegenwart einigermaßen umgreifend aufzuschlüsseln. José Saramago, der große portugiesische Dichter, sagt dazu: „Ich bin davon überzeugt, dass, wenn es gelänge, die Geschichte von dem aus zu analysieren, was heute um uns herum geschieht, diese Vorgehensweise uns in den Stand setzen könnte, sowohl die Gegenwart wie die Vergangenheit besser zu verstehen.“ Genau das wünsche ich Ihnen. Und im Übrigen, wenn Sie auf Ihren definierten Standpunkten dennoch unerschütterlich beharren wollen, dann nehmen Sie bitte den Ihnen zuerkannten Preis nicht entgegen.Prof. Dr. h.c. Klaus Huber, Panicale/Italien