: Leistungszettels Alptraum
Ein mahnend warnender Brief in Sachen S-Bahn und andere Nichtbeförderungsmittel
Lieber R.,
wenn du demnächst mal nach Frankfurt kommst, sei insofern gewarnt, als mir gestern dies passierte: Meine Bahn um 39 hatte ich gerade noch erreicht. Ich war den Kupferberg hinuntergerannt und durch die leuchtend neue und rolltreppenreiche Mainzer Hauptbahnhofshalle gestürmt, die S-Bahn fuhr gerade ein, ich fiel ins Abteil und fand einen Platz, auf dem es recht bequem war, und als die Bahn abfahren sollte, fuhr sie nicht ab, sondern blieb stehen, sie blieb einige Minuten stehen und noch einige mehr, und die Türen öffneten sich wieder, sodass man nun eine Bahnsteigdurchsage hören konnte, dergestalt sich die Abfahrt wegen Bauarbeiten in Mainz-Gustavsburg einige Minuten verzögere, und wie sich bald herausstellte, verzögerte sich diese Verzögerung weiter, diese Verzögerung zog sich gewissermaßen in die Länge, einige Raucher, unter ihnen auch ich, stiegen wieder aus und rauchten, und auf dem gegenüberliegenden Gleis fuhr der Nachtzug nach Milano ein, in den wollte ich einsteigen, um endlich nach Frankfurt zu kommen, doch ich wurde abgewiesen, weil der Milano-Nachtzug kein normaler Zug sei, den man einfach so benutzen könne, wie mir der Schaffner sagte, sodass ich zur S-Bahn zurückkehrte, und hinter dieser meiner letzten Bahn nach Frankfurt kam nun doch noch eine zweite Frankfurter S-Bahn zum Stehen, deren Weiterfahrt sich gleichfalls verzögerte, wie jene des Nachtzuges und des nun einfahrenden ICEs, weil die scheinbar sehr umfänglichen, ja gewaltigen, sämtliche Züge aller Art gleichermaßen blockierenden Bauarbeiten in Mainz-Gustavsburg weiter anhielten, so lange anhielten, dass sich die Verspätung auf mittlerweile vierzig Minuten erhöht hatte, mitten in der Nacht, und in Mainz standen nun zwei S-Bahnen, ein Nachtzug und ein ICE herum, und es waren geschätzte sechzig, siebzig Minuten vergangen, als sich die S-Bahn plötzlich in Bewegung setzte, sehr langsam, schleppend, und sie fuhr bis Mainz-Süd, eine Station vor Gustavsburg, und wie sich recht zügig herausstellte, war dies nur eine Finte, ein Trick, um uns kurzfristig ein Fortkommen vorzugaukeln, denn dort, in Süd, hielten wir wieder an, und neben und hinter uns hielten die anderen Züge, bis auf den ICE, der verweilte wohl weiter im taghell erleuchteten Mainzer Hauptbahnhof, und so standen wir wieder, und es dauerte nicht lange, bis die beiden Fahrkartenkontrolleure, die sich im Abteil aufhielten, langsam etwas ungeduldig zu werden begannen, sie begannen sich zu fragen, wie sie a) nach Hause kämen und b) ihren so genannten „Leistungszettel“ ausfüllen sollten, denn bei einer Verspätung von nunmehr bald eineinhalb Stunden, und wir waren gerade eine Station weit gekommen, war es ihnen unmöglich geworden, die auf ihrem Dienstplan stehende, sich in Frankfurt anschließende allerletzte S-Bahn nach Soundso zu kontrollieren, und die würde ihnen dann also auf ihrem Dienstplan fehlen, was der eine mit geflissentlichen, flinken Notaten über die ständig wachsende Verspätung wettzumachen versuchte, der andere durch eine sich parallel zur wachsenden Verspätung steigernde Ungeduld und Erregung, dergestalt er die „Deppen bei der Bahn“ verfluchte, „Bauarbeiten, jetzt! Unglaublich! Typisch DB!“, tobte er, „eine Katastrophe! Horror!“, und er rief per Handy einen „Frank“ im Stellwerk in Frankfurt an und forderte ihn auf, seinen Anschlusszug nach Gießen in Frankfurt gefälligst aufzuhalten, er wolle heute noch nach Hause, nach Hause mit dieser „Scheiß-DB-Bahn“, doch die DB-S-Bahn stand unvermindert weiter, was ihn, den etwas lauteren der beiden Bahnbediensteten, dazu animierte zu brüllen: „Bei den Pendlern morgens machen die das nie! Da gäb’s Aufstände! Das trau’n die sich nicht, die Bahnsäcke!“, und plötzlich rollte die Bahn im Schritttempo an, fuhr vielleicht hundert Meter und kam in der schwärzesten Nacht wieder zum Stehen, stand und stand, bis der ICE vorbeirollte, den der Kontrolleur verfluchte als „haha, Luxuszug, Geldzug! Vorteilszug, klar!“, und „wir“ säßen hier rum „wie die Ärsche“, und das taten wir auf ebendiesen, und ich kann dir, lieber R., nur sagen, irgendwann rollten wir wieder an und langsam, sehr langsam an einem kleinen Gleisreparaturwaggon vorbei, und der Anblick dieses gelb angestrahlten, in der Finsternis leuchtenden Fahrzeuges animierte den Ungehaltenen dazu, seinen Arbeitgeber nochmals aufs Kräftigste auszuschimpfen und richtiggehend fertigzumachen, Unverständliches wie „natürlich, 21 tief, ist Verspätung!“ zu schreien, oder den immer wieder angerufenen „Frank“ durchs Handy anzublöken, dass wir, die wenigen späten Fahrgäste, dann doch sehr lachen mussten, wir lachten fast bis Frankfurt, das wir statt nach 35 Minuten nach über zwei Stunden erreichten, Frankfurt, wo selbstverständlich niemand mehr einen Anschlusszug erreichte, und der Frankfurter Bahnhof war schwarz, dunkel, ganz anders als der helle, freundliche, neue Mainzer Hauptbahnhof.
Lieber R., bedenke dies, wenn du bald nach Frankfurt kommst. Vielleicht kommst du schon morgens oder mittags und fährst abends zurück, denn in Richtung Mainz soll gemeinhin alles glatt gehen. Und am Ende auch weniger spaßig ausgehen. Spaß kann man ja schon hier in Frankfurt ohne weiteres haben.
Es grüßt herzlich, dein
JÜRGEN ROTH