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Archiv-Artikel

Die Liebe zum Brautkleid

Stoff, ein Euro der Meter, und Stoff für die Hüter die Kleiderordnung: Einkaufen am Maybachufer bringt nicht nur Vitamine, sondern aktualisiert das Wissen über Dresscodes unter den Kopftüchern

VON JAN-HENDRIK WULF

Gewollt hat der türkische Ministerpräsident Recep Erdogan auf seinem letzten Berlin-Besuch wohl schon, aber aus Sicherheitsgründen durfte er nicht: flanieren auf dem Markt am Maybachufer. Dabei hätte der hohe Besuch kaum einen besseren Ort finden können, um durch einen kleinen Marktbummel die faktisch bereits vollzogene Ankunft des ewigen Beitrittskandidaten Türkei in Mitteleuropa zu unterstreichen. Mittlerweile wird die ethnische Einkaufsenklave in fast jedem Reiseführer als touristisch sehenswerte Berlin-Attraktion gehandelt.

Noch vor rund hundert Jahren, als die ersten Buden aufgestellt wurden, war die Stadt an diesem Ort praktisch zu Ende. Echte Türken kannten die damaligen Kunden wohl nur von den Werbebildern im Tabak- und Kolonialwarenhandel. Doch als zu Zeiten der geteilten Stadt das Neuköllner Maybachufer zwischen Kottbusser Damm und Hobrechtstraße wieder einmal an den Rand gedrängt war, wurde der Markt für die inzwischen zugezogenen türkischen Migranten und westdeutschen Wehrdienstflüchtlinge zum festen Bestandteil einer alternativen Lebens- und Einkaufskultur.

Marktmeister Wilfried Borgmann, der seit 14 Jahren an jedem Dienstag und Freitag für den privaten Betreiber B.Wo.B. die Standgebühren kassiert, hat auch die jüngste Metamorphose miterlebt: „Seit Mitte der 90er-Jahre sind die ganzen Studenten rüber in’n Osten. Stände mit Alternativprodukten hatten von da ab keine Chance mehr.“

Heute sind rund 80 Prozent der Händler türkischer oder arabischer Herkunft, die meisten betreiben ihren Stand schon seit etlichen Jahren. Im Angebot haben sie neben den Pyramiden von Obst und Gemüse vor allem Stoffe und Kleider. „Hier wird auf Masse gesetzt, das schlägt sich natürlich auf die Preise nieder“, erklärt der Marktmeister. Tatsächlich, schon das erste Preisschild winkt mit einem Sonderangebot: Handtaschen für 2,99 Euro. Bei dem Preis müssen die Täschner im Drittwelt-Sweatshop eigentlich noch was draufgelegt haben. Für Herrenslips mit Bein sind dagegen schon 4 Euro fällig.

Zwei Studentinnen sind aus Tempelhof angereist, um nach Gemüse und billiger Stoff-Meterware Ausschau zu halten. Mit etwas Glück werden die beiden das passende Muster schon für 1 Euro pro Meter finden. Bei Eier-Oeser, wo je drei Gervais-Obstgarten mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum für 1 Euro im Angebot sind, interessiert sich ein Kunde für eine abgestoßene Großpackung Müsli. „Na, 1 Euro vielleicht“, sagt die Verkäuferin.

Dieser Markt gehört den Frauen, Frauen mit Kindern, Frauen in Gruppen, einzelne Männer verlieren sich dazwischen. Das jüngst politisch viel diskutierte Kopftuch gibt es als profane Handelsware für 5 Euro: „Machen Sie zwei, beide 8“, versucht es eine Kundin. Der Verkäufer lamentiert und setzt das Gespräch auf Türkisch fort. Natürlich kommt das Geschäft zustande.

Nicht nur der frei verhandelbare Preis, auch die große Auswahl an Mustern und Farben sollte die bundespolitische Kopftuchdebatte eigentlich bereichern können. Wie mich eine Verkäuferin aufklärt, verbirgt sich hinter jedem Tuch ein eigener Dresscode: Ältere und konservative Frauen bevorzugen demnach Baumwolle in gedeckten Farben. Eine jugendliche Haltung drückt sich eher in hellen oder bunten Seidentüchern aus. Für festliche Anlässe gibt es aufwendig bestickte Tücher, die sehr teuer werden können. „Zum Ausgehen mit Freundinnen nehme ich natürlich ein Seidentuch, aber alltags ist Baumwolle eigentlich bequemer“, erläutert die Verkäuferin. Die Baumwolltücher werden aus der Türkei importiert. Dagegen entsteht die Seidenvariante in Berliner Heimarbeit. Die Stoffe dafür kommen nicht vom Markt, sondern von Wertheim.

Endlich beginnt sich dieser Dresscode zu entschlüsseln. Die politische Diskussion nimmt die Verkäuferin pragmatisch: „Gesetz hin oder her, mit Kopftuch findest du ja eh keinen Job.“ So rutscht mir doch noch die Frage raus, ob sie selbst das Kopftuch aus politischen oder religiösen Gründen …? Sie zuckt mit den Schultern.

Was selbst ernannte Hüter der christlichen Kleiderordnung weitaus mehr bestürzen müsste, findet sich ohnehin erst einige Stände weiter und heißt Gelinlik. Das sind Miniaturhochzeitskleider für kleine Mädchen. Ganz in Weiß werden sie zu Fasching und Familienfeiern getragen und in Rot, oder zumindest mit roten Besätzen, auch zu Weihnachten: Das wird mittlerweile in vielen türkischen Familien gefeiert, ohne Baum, aber mit Geschenken. Der Drang zum rüschenbesetzten Brautputz hat die kulturelle Grenze längst übersprungen: „Drei habe ich allein heute schon an Deutsche verkauft“, verrät die Gelinlik-Händlerin.

Vor einem Jahr schien die multikulturelle Eintracht am Maybachufer jedoch ein wenig getrübt. Damals berichtete der MDR, dass auf dem Markt Zeitschriften der israelfeindlichen Islamistengruppe Hisb ut-Tahrir verkauft worden seien. „Der Vertrieb politischer Druckerzeugnisse ist durch die Marktordnung untersagt“ ist alles, was Herr Borgmann dazu sagen will. Heute findet man nur die „Bibelgeschichten mit der Maus“. Die Maus ist politisch unverdächtig. Immerhin war sie erste Mensch, der im deutschen Kinderfernsehen Türkisch sprach. „3 Euro für die Maus?“ – „Meine Frau sagt: 4.“ Dagegen ist nicht zu argumentieren. Gekauft.

Es herrscht also längst wieder merkantile Normalität, wenn man auch mit halbem Ohr den Ruf eines Obstverkäufers aufschnappt: „Kiste Kiwi, 2 Euro, Schwester. Es lebe Palästina, das muss man doch wohl noch sagen dürfen. Kiste Kiwi, 2 Euro.“ Die Schwester antwortet auf Türkisch und lässt sich das Feierabendangebot nicht entgehen. Aus dem beachtlichen Berg suppender Kiwis kann man wohl nur noch Marmelade kochen. Der Händler muss ein rechter Spaßvogel sein, wenn er diesen urdeutschen Satz – „das muss man doch wohl noch sagen dürfen“ – zum besseren Absatz seiner gammligen Kiwis zweckentfremdet.

Meine Apfelsinen kaufe ich bei einem bayerischen Jodler. Diese Aneignung deutscher Kultur erscheint mir irgendwie unpolitischer. Navelinas, 3 Euro für 3 Kilo. Weil seine Waage 3.100 g anzeigt, verlangt der jodelnde Pfennigfuchser 3,10 Euro.