: Das Mekka der Astronomen
Auf dem Paranal-Berg in Chile steht das größte Teleskop der Welt. Das „Very Large Telescope“ hat, noch bevor es vollständig fertig gestellt wurde, neue wissenschaftliche Erkenntnisse geliefert
von KENO VERSECK
Jeden Abend, wenn die Wüste im Rot der untergehenden Sonne leuchtet, beginnt auf dem Paranal-Berg ein futuristisches Spektakel. An vier haushohen Aluminium-Türmen öffnen sich langsam, mit kaum hörbarem Surren große Schleusen. Geräuschlos drehen sich im Innern der Türme riesige Plattformen, auf die tonnenschwere Gestänge montiert sind. Techniker laufen durch das Halbdunkel, prüfen schnell noch Apparate und Werte an Anzeigetafeln. Leises Schnauben von Pumpen, elektronisches Piepsen und Funksprüche sind zu hören. Der letzte ist jeden Abend gleich: Er fordert alle noch in den Türmen Anwesenden dazu auf, diese zu verlassen.
Antu, Kueyen, Melipal und Yepun sind beobachtungsbereit. So heißen die vier Spiegel des „Very Large Telescope“, kurz VLT, das in der chilenischen Atacama-Wüste steht. In der Sprache der chilenischen Ureinwohner Mapuche die Worte für: Sonne, Mond, Kreuz des Südens und Venus.
Das VLT ist das größte und derzeit beste Spiegelteleskop der Welt. Dem US-Wissenschaftsmagazin Scientific American zufolge eines der „sieben Wunder der modernen Astronomie“.
Herzstück dieses „Wunders“ sind die vier Spiegel mit einem Durchmesser von je 8,2 Metern, geschliffen bis auf Millionstel Millimeter genau. Mit ihnen können die Astronomen so tief wie nie zuvor ins Weltall blicken und Aufnahmen von unerreichter Schärfe machen. Sie hoffen, damit Antworten auf die großen astronomischen Fragen zu finden: Wie alt ist das Universum? Wie sieht seine Struktur aus? Wie entwickelt es sich?
Auch vor der kosmischen „Haustür“, bis in einige hundert Lichtjahre Entfernung um das Sonnensystem, soll das VLT einst bahnbrechende Aufnahmen machen: zum Beispiel von Planeten um andere Sterne.
Das „Sehr große Teleskop“, gebaut von der Europäischen Südsternwarte (ESO) für den stattlichen Preis von 500 Millionen Euro, steht auf dem Paranal-Berg der Atacama-Wüste in 2.600 Meter Höhe. Es ist die trockenste Wüste der Erde: Durchschnittlich an 350 Tagen und Nächten im Jahr ist der Himmel hier wolkenlos, das letzte Mal regnete es auf dem Berg 1995. Fast nirgendwo auf der Welt gibt es idealere Bedingungen für astronomische Beobachtungen.
Im Mai 1998 lieferte der erste VLT-Spiegel Bilder, seit etwa zwei Jahren können Astronomen mit allen vier Spiegeln wissenschaftlich arbeiten. Der Bau des Teleskops, der seiner Endphase entgegengeht – bis 2005 soll das VLT fertig sein –, war eine technologische Meisterleistung. Die Spiegel, 22 Tonnen schwere und nur 17,7 Zentimeter dicke Glaskeramik-Giganten, wurden in einem mehrmonatigen, eigens für sie entwickelten Verfahren bei den deutschen Schott-Glaswerken gegossen.
Eine französische Firma schliff sie, ebenfalls in monatelanger Arbeit, und zwar so glatt und genau, dass ihre größte Unebenheit, wenn sie auf die Fläche einer Stadt wie Berlin vergrößert werden würden, nicht einmal einen Millimeter betrüge.
Die enorme Lichtsammlungskraft der Spiegel könnte jedoch nicht ausgenutzt werden ohne höchst ausgeklügelte Instrumente, die Störeinflüsse ausschalten. Aktive und adaptive Optik, lauten die Zauberworte der Astronomen.
Die Spiegel verformen sich schon durch leichte Temperaturgefälle. Zwar nur um Bruchteile von Millimetern. Aber das reicht aus, um unscharfe Aufnahmen zu erzeugen. Daher ruhen die Spiegel in einem Bett von jeweils 152 verstellbaren Stempeln, die die Spiegelform computergesteuert ständig korrigieren. Mit dieser aktiven Optik werden Temperaturschwankungen ausgeglichen.
Ein anderer Störfaktor ist die Erdatmosphäre, deren Luftunruhen die Aufnahmen verzerren. Im Falle des VLT sind sie etwa zwanzig Mal unschärfer, als es sein theoretisches Auflösungsvermögen zuließe. Die Lösung des Problems: adaptive Optik – eine Technologie, ohne die inzwischen kein Großteleskop mehr arbeitet. Dabei analysiert ein so genannter Wellenfrontsensor die Verzerrung der einfallenden Lichtwellen durch atmosphärische Turbulenzen. Ein optisches Instrument korrigiert anhand der Messwerte das Bild.
Am VLT übernimmt diese Aufgabe das Instrument Naos, das zusammen mit der eine Tonne schweren Hochleistungskamera Conica installiert wurde. Naos besitzt einen deformierbaren Bildkorrekturspiegel, dessen Form mehrere hundert Mal in der Sekunde verändert werden kann. Die Bildqualität, die damit erreicht wird, ist so gut wie bei einem Weltraum-Teleskop.
Doch das sind nicht die einzigen Tricks der VLT-Astronomen, bessere Aufnahmen zu machen. Um das Auflösungsvermögen des Teleskops zu erhöhen und noch tiefer ins All zu schauen, werden die Lichtwellen, die auf die einzelnen Spiegel fallen, in bestimmter Weise kombiniert und zu einem einzigen Bild zusammengefügt. Interferometrie heißt das Verfahren. Erreicht wird damit ein wesentlich höheres Auflösungsvermögen: Die Bilder erscheinen, als wären sie von einem Teleskop gemacht, dessen Spiegel so groß ist wie der Abstand zwischen den Einzelspiegeln.
Beim VLT kann auf diese Weise ein Spiegel von bis zu 200 Metern Durchmesser simuliert werden. Damit ist das Teleskop in der Lage, beispielsweise von der Erde aus auf dem Mond ein Objekt von der Größe eines Kleinwagens zu erkennen, also in 385.000 Kilometer Entfernung. Letzten Herbst wurden die vier VLT-Spiegel erstmals probeweise zusammengeschaltet, ab Mitte dieses Jahres soll das Interferometer regulär arbeiten. Nächstes Jahr kommen vier weitere kleinere Hilfsspiegel für das Interferometer hinzu. Damit wäre das VLT-Interferometer dann in der Lage, Planeten um andere Sterne zu entdecken.
Auch andere Erleichterungen gibt es für Astronomen: So kann das Teleskop während Beobachtungen schnell vom Wellenlängenbereich des sichtbaren Lichts in den des Infrarotlichts wechseln – bei anderen Teleskopen ist das oft mit einem mühseligen und zeitraubenden Instrumententausch verbunden. Oder: Ein Spektrograph erstellt bei Aufnahmen eine automatische Spektralanalyse. Sie lässt Rückschlüsse auf den Aufbau und die chemische Zusammensetzung des beobachteten Objektes zu – normalerweise eine langwierige Arbeit für Astronomen.
Stefan Wagner, 40, Astronom aus Heidelberg, war unter den ersten Forschern, die am VLT Beobachtungszeit erhielten, und er ist immer noch begeistert: „Seit etwa zehn Jahren verstehen wir dank der Großteleskope sehr viel besser, wie sich Galaxien entwickeln, wie sich die Materie zwischen den Galaxien entwickelt, wie die Struktur des Kosmos aussieht, und dazu hat das VLT schon jetzt einen wichtigen Beitrag geleistet.“
Thomas Szeifert, 36, Stabsastronom am VLT, der die Großteleskope bedient, bestätigt das: „Wenn man jetzt in die wissenschaftlichen Zeitschriften schaut, dann kommt das VLT inzwischen häufig an wichtiger Stelle vor. Das heißt, das VLT hat schon in der Anfangsphase gezeigt, dass es wesentlich zur Forschung beiträgt.“
Forscher konnten damit beispielsweise die Atmosphären von Sternen in mehreren zehntausend Lichtjahren Entfernung untersuchen und exotische, bisher wenig beobachtete Objekte wie weiße und braune Zwerge untersuchen. Sie fanden Quellen für die bisher rätselhafte kosmische Röntgen-Hintergrundstrahlung in Milliarden Lichtjahren Entfernung und erbrachten den Nachweis, dass Galaxien im Universum nicht zufällig verteilt sind, sondern sich in bestimmter Weise anordnen. Und Ende letzten Jahres bewiesen VLT-Aufnahmen erstmals schlüssig, dass sich im Zentrum unserer Galaxie, der Milchstraße, ein schwarzes Loch befindet.
Die ESO will sich jedoch mit dem Sehr großen Teleskop nicht zufrieden geben. Sie plant derzeit schon ein „Überwältigend großes Teleskop“: das OWL, dessen Spiegel einen Durchmesser von sage und schreibe 100 Metern haben soll. Der wäre dann nicht mehr aus einem Stück, sondern aus tausenden von Einzelspiegeln zusammengesetzt. Das OWL – es stände in 5.000 Meter Höhe, ebenfalls in der Atacama-Wüste – soll in der Lage sein, noch Sterne am Rand des Universums zu sehen und die Atmosphären erdähnlicher Planeten in der Nachbarschaft des Sonnensystems zu erforschen.
Weitere Infos: www.eso.org/paranal