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Archiv-Artikel

Fauler Frieden, nicht auf ewig

Das Staatstheater Braunschweig erklärt sich zur Heimat des psycho-realistischen Theaters und versucht sich an Thomas Vinterbergs ,,Das Fest“

Aus Braunschweig Jens Fischer

„Wir haben ein sehr gutes Schauspielensemble, weil es seit Jahren ungestört zusammenarbeiten kann, da nie ein Intendant anderer Bühnen hier vorbeischaut und die besten Kräfte abwirbt.“ Für Chefdramaturg Matthias Schubert war es vor zwei Jahren schon ein kleiner Kulturschock, als er aus Heidelberg ans Staatstheater Braunschweig wechselte. „Die Arbeit hier wird überregional nicht wahrgenommen.“

Dabei kann das Staatstheater auf eine über 300-jährige Geschichte zurückblicken. Am Hagenmarkt ließ Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Lüneburg bereits 1690 eins der ersten öffentlich zugänglichen Theaterhäuser im deutschsprachigen Raum entstehen. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts ausschließlich für den Opernbetrieb reserviert, fanden später auch regelmäßig Schauspielaufführungen statt. Beispielsweise die Uraufführungen von Lessings Emilia Galotti (1772) und Goethes Faust I (1829).

Das heutige Opernhaus mit seinen knapp 1.000 Plätzen, Nachfolgebau des alten Braunschweiger Theaters, wurde 1861 eingeweiht, das Schauspielhaus mit 300 Plätzen vor acht Jahren. In dieser Saison plant das Staatstheater 29 Neuinszenierungen und knapp 500 Vorstellungen. Aber das schlechte Image der Stadt, dass hier das Ende der Welt sei, habe sich gehalten, seit Braunschweig ins Zonenrandlagen-Abseits gedrängt worden war, bedauert Schubert.

Aus der Not macht Intendant Wolfgang Gropper eine Tugend. Nicht Theater für Deutschland, sondern für Braunschweig soll hier stattfinden, so das Motto. Und so versucht man in Braunschweig laut Schubert, das „ästhetisch anders geschulte Publikum“ durch „psycho-realistisches Theater“ zu begeistern. Und das gelingt: Nachdem man im vergangenen Sommer durchgespielt und auch Open-Air-Angebote gemacht hat, konnten 30 Prozent mehr Zuschauer als 2002 gezählt und damit 43 Prozent mehr Einnahmen erzielt werden. „Das sind so gute Zahlen, die wollen wir eigentlich gar nicht rausgeben, sonst kürzt man weiter an unserem Etat he–rum“, sagt Verwaltungsdirektor Thomas Fehrle.

Im vergangenen Jahr habe man eine Kürzung des staatlichen Zuschusses um 330.000 Euro auf 24,5 Millionen Euro hinnehmen müssen. Eine Summe, die sich Land und Stadt im Verhältnis zwei zu eins teilen. 2004 wird Niedersachsen weitere 325.000 Euro streichen. Die damit verbundene Kürzung des städtischen Zuschusses um 163.000 Euro wird vom örtlichen CDU-Bürgermeister verweigert, weil das Theater für die Kulturhauptstadt-Bewerbung zu wichtig sei. Und so tritt es mutig die Flucht nach vorn an. Das Thema „Familie als Schreckenszusammenhang“ (Schubert) hat man zum Spielzeitthema erhoben. Das mit Werken wie Doris Dörries Happy, Sophokles‘ Elektra und Das Fest ausgelotet wird.

Bei Letzterem handelt es sich um die Adaption des gleichnamigen Films von Thomas Vinterberg. Regisseur Holger Berg versucht gar nicht erst, eine theatralische Entsprechung für die Dogma-Formalismen zu finden, die mit wackelnder Kamera Authentizität vortäuschen. Berg vertraut eher der Komposition aus Verdichtung und Entspannung.

Im Stück geht es darum, bourgeoise Scheinheiligkeit auf komische und zugleich beklemmende Weise darzustellen und von der befreienden Wirkung der Wahrheit zu künden. Anlass: Papas Geburtstagsfest. Der erfolgreiche Unternehmer Helge Klingfeldt-Hansen (Günter Hutsch) betritt die Bühne, 60 wird er heute, schmeißt sich an die Zuschauer heran. Seine Gäste treten aus der Mitte des Publikums auf. Die Darsteller agieren, als wäre all das feierliche Getue, Getrinke und Gelache dem Leben abgeschaut und eins zu eins auf die Bühne übersetzt.

In fast jeder Szene dieser „verfickten Familie“ geht es um Vertuschen, Tricksen, Inszenierung. Die Konvention verlangt Ritual, der älteste Sohn Christian (Götz van Ooyen) indes will Wahrheit – und bricht unter der Last seiner Aufgabe fast zusammen. In seinem launigen Toast auf den Vater sagt er, dieser habe ihn und seine Schwester als Kinder sexuell missbraucht, die Mutter habe es gewusst und weggeschaut. Den Jungen hat das zeitweilig in die Psychiatrie getrieben, das Mädchen in den Selbstmord. Beklemmendes Schweigen. Wenn der Jubilar jetzt wieder vors Pub–likum tritt, lacht keiner mehr. Die Mischung aus autoritärer Gesinnung, Etikette und entfesselten Trieben macht Angst. Die Gäste versuchen es hinwegzulachen.

Am Ende geht das Leben weiter – mit Onkel Alkohol als Notarzt. Dann gibt‘s Kaffee. Und Christians Entschuldigung. „Sehr gut, Papa. Gute Rede. Aber ich glaub, du musst jetzt gehen, damit wir essen können.“ Vater Helge wird verbannt. Alle anderen finden zurück zu einem faulen Frieden.

Holger Berg setzt auf die herkömmlichen Effekte psychologischen Einfühlungstheaters – und gewinnt. In der strikt privaten Geschichte, im subtil gezeichneten sozialen Milieu, in der Genauigkeit des Spiels glimmt unaufdringlich das Politische, Gesellschaftliche. Das Leben ist ein Kompromiss, ein Gespinst aus Demut und Auflehnung, Duldung und Gewalt.

nächste Vorstellungen von Das Fest: 23. 1., 14.2., 19.30 Uhr, Staatstheater Braunschweig