„Wir brauchen eine europäische Debatte über die Rolle der Religion“, sagt Rudolf von Thadden

Die deutsch-französische Partnerschaft ist so eng wie selten – und sie braucht mehr zivilgesellschaftliche Annäherung

taz: Herr von Thadden, als vor einem Jahr der 40. Jahrestag des Élysée-Vertrags gefeiert wurde, meinten viele, dass die hohe Zeit der deutsch-französischen Partnerschaft vorbei sei. Jetzt ist die Zusammenarbeit so eng wie nie. Warum?

Rudolf von Thadden: Entscheidend war der Irakkrieg. Als der 40. Jahrestag vorbereitet wurde, war Deutschland gerade Mitglied im UN-Sicherheitsrat geworden. Die Bundesregierung stand vor der Alternative: Entweder machen wir eine große Feier, die die Besonderheit der deutsch-französischen Beziehungen hervorhebt. Dann muss sich das auch in der gemeinsamen Außenpolitik und in der Beziehung zu den USA zeigen. Oder aber wir haben Angst vor einem zu engen Schulterschluss mit Frankreich im UN-Sicherheitsrat, dann können wir auch nicht groß feiern. Denn dann würden die Leute sagen: alles nur Sonntagsreden.

Viele sehen in diesem Schulterschluss den Versuch, der EU die deutsch-französischen Interessen aufzuzwingen.

Das ist übertrieben. Schließlich gab es in ganz Europa Demonstrationen gegen den Irakkrieg. Die Bürger waren froh, dass Paris und Berlin versuchten, das US-Kriegsabenteuer zu stoppen.

Doch gegen die deutsch-französische Zusammenarbeit hat sich eine spanisch-polnische Allianz gebildet. Und diese hat die Verabschiedung der EU-Verfassung verhindert. Irgendetwas haben Paris und Berlin wohl falsch gemacht …

… aber nicht beim Irakkrieg. Das hat auch andere Gründe. In Paris regieren Gaullisten, und diese forcierten nie eine Stärkung der EU-Institutionen in Brüssel. Schon Charles de Gaulle sah die deutsch-französische Allianz nicht in erster Linie als Wegbereiter für die EU, sondern als Bündnis, das den Weltmächten Paroli bieten sollte.

Das scheint sich heute zu wiederholen. Mehr als Berlin setzt Paris auf Kerneuropa und eine europäische Avantgarde.

Tatsächlich hätte de Gaulle einem Europa der 25 nie zugestimmt. Aber heute gibt es auch europafreundlichere Strömungen, nicht zuletzt wegen des Euro. Die Deutschen dagegen sind aus historischen und geografischen Gründen viel stärker für die Osterweiterung und hängen auch deswegen mehr an Brüssel.

Das ist aber doch ein fundamentaler Unterschied.

Berlin wird lernen müssen, dass die Franzosen nicht so leicht auf nationalstaatliche Traditionen verzichten. Bei der Frage, ob wir ein Europa der Bürger oder eines der Nationalstaaten wollen, wird sich eher das Europa der Staaten durchsetzen. Der Wunsch vieler Deutscher, die Nationalfahne durch die Europafahne zu ersetzen, wird sich nicht erfüllen.

Also ist Frankreich der stärkere Teil der Allianz?

Wirtschaftlich ist Deutschland sicher stärker. Aber politisch haben die Franzosen mehr Trümpfe in der Hand: zum Beispiel den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat. Hier müssen die Deutschen den Franzosen den Vortritt lassen. Ein anderer Punkt ist unsere Geschichte. Ein Bundeskanzler hätte Polen nie so direkt angreifen können wie Chirac, als er beim Streit um den Irakkrieg Polen zum Schweigen anhalten wollte.

Vielleicht verstehen Schröder und Chirac sich ja so gut, weil beide einen Hang zum Etatismus haben?

Frankreich ist etatistischer als Deutschland. Aber auch in der SPD gibt es seit August Bebel eine Tendenz, den Staat sehr ernst zu nehmen. Daher haben häufig Sozialdemokraten viel Verständnis für die französische Tradition.

Die Regierungen scheinen sich näher zu sein als die Gesellschaften. Oder?

Ja. Das zeigt sich besonders deutlich beim Kopftuchstreit. In Frankreich fordert der Staatspräsident die Verbannung aller religiösen Symbole aus den Schulen. Bundespräsident Rau dagegen ist für die konsequente Zulassung dieser Symbole. Frankreich ist viel laizistischer als Deutschland. Damit sind wir wieder bei der Verfassungsdebatte. Es geht ja nicht nur um die Entscheidungsprozeduren im Rat, sondern auch um den Gottesbezug. Die Franzosen, die die überzeugtesten Laizisten in der EU sind, fordern einen völligen Verzicht auf die Erwähnung Gottes in der Verfassung. Wenn die CDU/CSU regieren würde, gäbe es dagegen viel mehr Druck, so eine Formulierung aufzunehmen. Daher brauchen wir dringend eine europäische Debatte über den Platz der Religionen in der Gesellschaft. Wir können nicht verlangen, dass die Staaten sich vom nationalstaatlichen Denken verabschieden, die verschiedenen Konfessionen aber auf ihren dogmatischen Positionen beharren. Da haben die Kirchen viel ökumenische Arbeit vor sich.

Aber auch in anderen Bereichen fehlen Debatten zwischen Franzosen und Deutschen.

Es gibt über 2.000 Städtepartnerschaften, die sehr intensiv sind. Außerdem bemüht sich der französische Wirtschafts- und Sozialrat im Moment sehr um Kontakte zu deutschen Verbänden. Das ist keine so unbedeutende Organisation, wie es sich zunächst anhört. Der Vorsitzende ist immerhin der fünfte Mann in der Rangordnung des französischen Staates. Außerdem müssen die beiden Parlamente nun damit beginnen, die Rechtssysteme beider Länder anzugleichen. Etwa beim Familienrecht, bei Renten- und Krankenversicherung. Das sind Dinge, die die Menschen wirklich interessieren. Eine deutsch-französische Union kann nur funktionieren, wenn die zivilgesellschaftliche mit der staatlichen Ebene Schritt hält.

INTERVIEW: SABINE HERRE