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Archiv-Artikel

Rache des Elfmeterpunktes

Stuttgarts verschossener Elfmeter lässt den HSV weiter vom europäischen Pokalwettbewerb träumen – selbst wenn das 1:1 einen momentanen Abstieg vom finanziell lukrativen fünften Rang bedeutet

„96 Spiele zu null wären mir lieber“

von OKE GÖTTLICH

Haben Elfmeterpunkte eine Seele? Kreidemarkierungen, die lediglich den regulären Abstand von 11 Meter zur Torlinie kennzeichnen, scheinen eine gewisse Eigendynamik zu entwickeln, die den irrationalen Überbau beinahe religiös-mythologischer Betrachtungen zum Spiel mittragen. Das beweist nicht nur das kleine Lesebuch mit dem Thema: „Elfmeter! Kleine Geschichte einer Standardsituation“, welches dieser Tage in die Buchhandlungen kommt (Eichborn), sondern auch die Szene, die sich im Spiel der UEFA-Pokal-Aspiranten VfB Stuttgart und HSV um die 35. Minute herum abspielte.

Hätte der Stuttgarter Kevin Kuranyi die Chance gehabt das Buch „Lexikon der Fußballmythen“ (Eichborn) vor dem Spiel zu lesen, wäre ihm klar gewesen, dass er rein statistisch betrachtet einen großen Fehler beging, indem er dem Gefoulten Alexander Hleb den Ball aus den Armen entfernte, um den Elfmeter zu schießen und nach seinem Tor zum 1:0 für Stuttgart (20.) nun im Alleingang alles klar machen wollte. Denn: Zwischen den Bundesliga-Spielzeiten 1993/94 und 1997/98 wurden 78,5 % aller Elfmeter verwandelt; trat jedoch der Gefoulte selbst an, lag die Erfolgsquote um 11 % höher. Kuranyi missachtete die arithmetischen Gesetze, die Hleb als Schützen forderten, also – und verschoss. Die situative Maßlosigkeit des jungen Stürmers wurde von der Kreide gerächt.

„Für uns begann das Spiel erst nach dem verschossenen Elfmeter“, folgerte HSV-Coach Kurt Jara, nachdem sein Team in der ersten halben Stunde „katastrophal“ spielte, wie HSV-Keeper Martin Pieckenhagen später zugeben sollte. Vor allem die linke Defensivseite des HSV (s. Beitext rechts), wirkte in den starken Anfangsminuten des VfB überfordert. „Plötzlich glaubte die Mannschaft: Hoppla, da können wir was holen“, bemerkte Jara die erlahmenden Bemühungen der Stuttgarter und forderte mehr Offensivgeist. Dieser inspirierte Sergej Barbarez zu einem gewitzten No-Look-Pass zu Mehdi Mahdavikia, der aus einem ganz schmalen Winkel den Ball gefühlvoll an den Innenpfosten des Stuttgarter Tors lenkte und sich jener nach dieser Behandlung nicht traute, wieder aus dem Tor zu hüpfen (43.). „Es war ein schönes Zufallstor“, outete Jara später, der sich angesichts der Spielweise seines Teams über einen Punktgewinn beim Tabellendritten aus Stuttgart freute.

Immerhin ein Teilerfolg, der aufgrund der anderen Ergebnisse des Spieltages dem HSV die Möglichkeit raubte, auf den vierten Tabellenrang und in den finanziell ersehnten internationalen Pokalwettbewerb vorzustoßen. „Nichts Halbes und nicht Ganzes“, ärgerte sich Pieckenhagen, der wie die Verantwortlichen weiß, dass der UEFA-Cup dem Team angesichts der schiefe Finanzlage (12,5 Millionen Euro Defizit) gut bekommen würde.