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Archiv-Artikel

Nettmann will die Weltherrschaft

Jeder Schnipsel wird verarbeitet: In der „Renate“-Comicbibliotek haben Cartoonisten ihre Strips in einen Kasten geworfen. Die so entstandene Sammlung ist jetzt unter dem Namen „Rorschach-Zeitung“ als großformatige Comiczeitschrift erschienen

von OLIVER RUF

Der junge Mann will vom Dach der Gedächtniskirche springen. Er hat gerade von seinem Lungentumor erfahren. Da kommt Nettmann angeflogen. Der Superheld im engen Ganzkörperanzug, auf dem ein Herz von Kreisen wie von Planetenringen umkreist wird, sitzt in einem Ford Taunus. Er streckt seinen maskierten Kopf aus dem Autofenster und ruft: „Tjaaa … Vorbeugen ist besser als heilen!“ Der junge Mann springt. Nettmann betrachtet die Blutlache und sagt: „Tschuldigung, Sie haben da was verloren.“

Diese Comicepisode steht in einer druckfrischen Berliner Comiczeitung. Sie versammelt eine Reihe von vor allem anonymen Zeichenarbeiten. Die Lungentumor-Geschichte dürfte der prominenteste Beitrag sein. Sie stammt von dem Berliner Künstler Bernd Schmucker, der seit zehn Jahren Nettmann-Comics für bekannte Stadtmagazine und alternative Zeitungsprojekte liefert. Vor ungefähr drei Monaten, als er einmal wieder in der Comicbibliothek Renate zu Besuch war, muss ihm dort ein angemalter Kasten aufgefallen sein. Darauf stand geschrieben: „Euer Beitrag (wird gedruckt).“

Mit Schmucker haben insgesamt 20 Renate-Besucher ihre Zeichnungen, Bilder, Strips, Fotomontagen und Fanzines in den Kasten geworfen. Meistens waren es solche Leute, die sich hier donnerstags zu einer Art Comic-Workshop treffen. Dann trinken sie ein Bier, plaudern, fachsimpeln. Sie leihen einen Comic aus der Bibliothek aus, lesen antiquarische Comicbände oder schauen Trickfilmvideos. Und sie zeichnen. Sie zeichnen mit der Aussicht, dass alles, was sie zeichnen, veröffentlicht wird.

Betreut wird das Projekt von Andreas Hedrich. Nach einer Schlagerparty in der Renate, die einmal im Jahr stattfindet und aus deren Erlös die Miete in der Tucholskystraße bezahlt werden kann, hatte er die Idee mit dem Kasten: „Wir wollten den Leuten die Möglichkeit geben, ihr Zeug ohne die Einschränkungen und Hürden des Verlagswesens zu veröffentlichen.“ Schnell füllte sich die Kiste. Hedrich hat keinen Schnipsel übersehen und betont: „Wir haben jeden Fitzel verarbeitet.“ Mit der „Fleischerei“ am Rosenthaler Platz fand er eine offene Siebdruckerei, in der er die Zeitung zusammenstellte.

Heraus kam ein monströses Blatt, dessen Auflage streng limitiert ist. Lediglich 80 Exemplare plus 20 Stück Ausschuss sind gedruckt worden. Deren schwarzweiße Seiten bebildern Collagen unterschiedlicher Comicstile und Zeichenarten. Die einzelnen Beiträge stehen inhaltlich in keinem Zusammenhang zueinander, sondern zeigen die Einfälle von jedem, der mitgemacht hat. Man konnte seiner Fantasie freien Lauf lassen, einen neuen Comic kreieren oder alte Cartoons aus der Schreibtischschublade kramen. Vorgaben gab es keine. Deshalb wurde die Zeitung auch nach dem Psychologen Hermann Rorschach benannt. Der entwickelte vor knapp hundert Jahren eine psychoanalytische Methode, mit der Assoziation von Tintenklecksen Menschen zu therapieren. Er legte dabei seinen Patienten eine Reihe solcher Tintenkleckse vor. Diese sollten spontan äußern, was sie darin erkennen konnten. Die Antworten gaben Hermann Rorschach Hinweise auf Sorgen, Ängste und Probleme.

Die Rorschach-Zeitung folgt diesem Prinzip, sich spontan etwas einfallen zu lassen. Um daran zu erinnern, schmücken zwei riesige Tintenkleckse Vorder- und Rückseite des Mega-Comic-Hefts. Bei dessen Inhalten fällt besonders eines auf: Viele der Nachwuchskünstler blenden in eine Szene, suchen ein Detail und zoomen ganz nah ran. Eine Tür öffnet sich, man sieht nur einen dunklen Spalt. Ein Gesicht erscheint in dem Spalt. Dann erkennt man die Pupille eines Auges riesengroß. Im nächsten Moment wird ein Stuhl, auf dem ein Mann mit Hut sitzt, von gesichtslosen Figuren durch die Tür geschleppt. Das ergibt eine groteske Momentdarstellung. Oftmals dominieren dabei Negative, also weiße Striche auf dunklem Grund. Als Positiv sind dagegen kleine Storys mit Bildabfolgen dargestellt. Zum Beispiel „The sugarsweet story“, die vom Eisschlecken zweier erwachsener Männer erzählt. Im Laufe der Geschichte verwandelt sich das Geschlechtsteil des einen Mannes in eine Eistüte mit drei Bällchen, die sich der andere Mann genüsslich schmecken lässt. Derjenige mit dem Eis ist eindeutig als Adolf Hitler zu erkennen.

Die Rorschach-Zeitung ist allerdings nicht das einzige Medium, das in der „Renate“ entsteht. Seit DDR-Zeiten wird dort an der gleichnamigen Hauszeitschrift gebastelt. Von Anfang an dabei ist der Zeichner Auge Lorenz, der mitteilt, dass zurzeit an der zwölften Renate-Nummer getüftelt wird: „So etwa Mitte Mai wird das fertig sein.“ Auge kann verraten, dass sich daran auch Bernd Schmucker mit einem neuen Nettmann-Comic beteiligt. Auf dessen Webseite hatte dieser für 2001 die Übernahme der Weltherrschaft geplant.

Die Rorschach-Zeitung gibt es für 3 Euro in der Renate Comicbibliothek, Tucholskystraße 32, 10117 Berlin. Sie ist Mo. bis Do. 14 bis 20 und Fr. 14 bis 19 Uhr geöffnet