: Piranesis irre Verliese
Die Hamburger Kunsthalle zeigt italienische Zeichnungen, die 50 Jahre ungesehen in den eigenen Beständen schlummerten. Die Leonardos, Raffaels und Piranesis verraten viel über die dunkle Rückseite einer Kunst, die transparent und makellos zu sein hatte
VON PETRA SCHELLEN
Wäre man im Restaurant, müsste man sagen: Dies ist allerfeinste Kost. Fein ziseliert, erlesen gewürzt – ein Augenschmaus, der weit schmackhafter ist als die Besichtigung eines Ölgemäldes. Die Rede ist von den höchst gelungenen italienischen Zeichnungen, die derzeit in der Hamburger Kunsthalle zu entdecken sind.
Die Schau wurde komplett aus eigenen Beständen zusammengestellt. Denn das Hamburger Kupferstichkabinett enthält Kostbarkeiten, die die Kunsthalle vor allem der Großzügigkeit des 1863 verstorbenen Sammlers Georg Ernst Harzen verdankt – vier Leonardo-Zeichnungen sowie Blätter von Andrea Mantegna, Andrea del Sarto, Jacopo Pontormo und Parmigianino hat er ihr vermacht. Bedingung für die Schenkung war lediglich ein eigenes Gebäude, das er 1869 bekam, als der Altbau der Kunsthalle eröffnet wurde. In diesem fanden die 30.000 von Harzen geschenkten Druckgrafiken und Zeichnungen Platz.
Ein so reichhaltiger Fundus ist ein Glücksfall, solche Blätter sind für öffentliche Institutionen längst unerschwinglich. Befasst man sich mit den 140 derzeit in Hamburg gezeigten Blättern, die erstmals seit 50 Jahren zu sehen sind, merkt man schnell: Dies ist eine Schau, die Zeit erfordert. Mit flüchtigem Hinsehen ist hier nichts gewonnen. Wer schnelle Schnitte sucht und ungeduldig ist, wird scheitern. Das fast meditative Sich-Vertiefen in Details von Gewändern, Gesichtern und Figurenkonstellationen ist nötig. Doch wer sich darauf einlässt, wird belohnt.
Ganz nebenbei zerschlägt die Schau, was vom Geniebegriff noch übrig sein mochte. Auch ein Michelangelo schuf nicht aus einem Guss, auch er zeichnete seine Gemälde sorgfältig vor, wie man in der Hamburger Kunsthalle sehen kann. Er probierte zum Beispiel verschiedene Haltungen des Christuskindes aus, bevor er sich für die gültige Version entschied. Und dem „Heiligen Sebastian“ am Marterpfahl hat er zwei, drei Köpfe gezeichnet, immer auf der Suche nach der idealen Form.
„Leonardo war fix und sprühte vor Einfällen. Das zeigen diese frühen Blätter deutlich“, sagt Ausstellungskurator David Klemm, der die zwischen 1450 und 1800 entstandenen Grafiken in mehrjähriger Arbeit untersucht hat und dabei auf interessante Parallelen stieß. Sie alle sind Vorstufen zu Altarbildern, Goldschmiedearbeiten oder Fresken. „Diese Grafiken sind sämtlich funktional und wurden fast nie um der Kunst willen gefertigt“, sagt Klemm. Wirtschaft und Aufträge florierten im Italien der Renaissance, für Spielerisches blieb kaum Zeit.
Entsprechend eingeschränkt sind die Themen: Christliche Motive und Szenen aus der griechischen und römischen Mythologie dominieren. Die zugehörigen Geschichten zu kennen schadet nicht. Es ist aber nicht Voraussetzung: Raffaels „Kopf eines Cherub“ – ein sehr plastischer, ernst-entrückter Kinderkopf – lässt sich so genießen. Die seelische Erschöpfung der am Christuskreuz zusammengebrochenen Maria eines Salvati übermittelt sich auch ohne Lektüre der Bibel. Und Leonardos geschlechtsloser Köpfchen eines alten Menschen, würdevoll und fern jeder Karikatur, trägt gar keinen Titel. Fast zärtlich hat Leonardo den deformierten Greisenkopf modelliert. Dies ist eins der anrührendsten Stücke – gerade wegen seines Muts zur Hässlichkeit und der Weigerung, das Altern zu idealisieren.
Architektonisch exakt kommt dagegen das Interieur von San Marco in Venedig daher. Allerdings behandelt Canaletto den Raum respektlos: Allerlei Männchen palavern auf der Empore, und neben einem Geistlichen kniet andächtig ein Hund auf dem Boden. Natürlich, er ist Symbol der Treue, aber er lässt sich auch ironisch lesen. Und was hier subtil karikaturesk ist, offenbart sich bei Gian Lorenzo Bernini und Giovanni Battista Tiepolo ganz direkt. Diese sonst so ernsten Künstler können durchaus mit dem sozialkritischen französischen Karikaturisten Honoré Daumier konkurrieren. Ganz nebenbei haben die beiden allerlei Männergestalten karikiert – auf leicht hingeworfenen, fast privaten Blättern, die eine deutliche Nähe zur Handschrift zeigen.
Wer mag, kann in dieser Ausstellung natürlich auch stilistische Veränderungen verfolgen – jene subtilen, nie per Paukenschlag eintretenden Wandlungen in der Kunstgeschichte. Jacopo Pontormos weibliche Allegorie etwa ist um ein paar Zehntelgrad zu verdreht, um noch natürlich zu sein; Dekadenz, Experimentierfreude, vielleicht auch ironische Brechung stellt sich schleichend ein. Denn natürlich gaben sich die Künstler bald nicht mehr zufrieden mit der in der Renaissance gefeierten Zentralperspektive, der exakt naturwissenschaftlichen Darstellung von Körper und Architektur. Wie in einem Zerrspiegel loteten die Künstler des nachfolgenden Manierismus Dehnungen und Drehungen der Figuren, das Aus-dem-Gleichgewicht-Bringen aus.
Ganz sicher aus dem Gleichgewicht geraten sind auch die im 18. Jahrhundert gefertigten architektonischen Grotesken Piranesis. Düster, dach-, logik- und bodenlos wirken die Fassaden und Innenräume, die zu betrachten ein Vergnügen ist. Treppen führen ins Nichts, Menschen stehen auf völlig unzugänglichen Balustraden. Diese Zeichnungen erinnern an Eschers Konstruktionen, die den irrationalen Aspekt von Architektur offenbaren. Hier tut sich die Rückseite der makellosen Transparenz der Renaissance auf – die fehl konstruierten Verliese können als frühe Metaphern des chaotischen Unterbewussten, vielleicht auch der Anarchie gesehen werden.
Diese Zeichnungen wären ein guter Abschluss des Parcours gewesen, aber anscheinend hat sich der Kurator um die Stimmung der Besucher gesorgt. So wird Piranesis Düsternis durch die unbeschwerte Helligkeit eines gleich daneben platzierten Tiepolo aufgefangen, der sich mit Engeln und Tauben gen Paradies begibt. Beide Künstler wirkten gleichzeitig, doch wer von beiden ist progressiv, wer reaktionär?
Das Konzept der Ausstellung, das wenige berühmte Zeichnungen mit etlichen unbekannten garniert, trägt. Die umgebenden Zeichnungen haben zwar nicht alle berühmte Urheber. Doch auch wenn man von Giovanni Lanfranco und Giovanni Battista noch nie gehört hat, so ist die Qualität und Kraft ihrer Porträts offenkundig. In der Hamburger Kunsthalle lässt sich derzeit einiges entdecken.
Die Ausstellung ist bis zum 18. 1. 2009 in der Hamburger Kunsthalle zu sehen