: In Unwirklichkeit
Schneller denken, sauberer passen: Der FC Barcelona erinnert sich seiner besonderen Tugenden – und reüssiert
BARCELONA taz ■ Als der FC Barcelona anderthalb Jahre danach endlich wieder als Tabellenführer der spanischen Primera División geführt wird, ist niemand da, der applaudieren könnte. Also ordnet Verteidiger Gerard Piqué an, sich selbst Beifall zu spenden. Die Nachricht von der Niederlage des bisherigen Ersten FC Valencia gegen Santander, die Barça auf Rang eins katapultiert, erreicht die Mannschaft am Samstag just vor dem Abflug nach ihrem 4:1-Sieg beim FC Málaga, und Piqué startet im Flugzeug La Ola, die Jubelwelle. Die meisten Spieler machen mit. Bloß Thierry Henry, der französische Welt- und Europameister, bleibt regungslos und sieht aus, wie so rätselhaft oft in Barças Spiel: als verstehe er nicht, was vor sich geht.
Selten hinterließ das Alltagsglück, im Herbst einmal Erster zu sein, beim mit Pokalen gemästeten FC Barcelona solch eine tiefe Befriedigung. Der gefallene Champions-League-Sieger von 2006 nimmt es gierig als Beweis, dass es ein Leben nach Ronaldinho gibt. Etwas Einmaliges ging zu Ende, als Trainer Frank Rijkaard und die Embleme seiner Elf, Ronaldinho und Deco, den Verein im Sommer verlassen mussten; ihr anmutiges Spiel von 2006 war offensichtlich der Dekadenz verfallen.
Doch dieser Verein besitzt, mehr als alle anderen, eine Identität, auf die er unabhängig von einzelnen Personen immer zurückgreifen kann: Moden kommen, Moden gehen, aber Barça beharrt auf seinem Stil vom Schönen und Guten, vom ewigen, offensiven Passspiel. Der Vorstand berief einen Trainer, Pep Guardiola, der mit 37 ein einziges Jahr in der vierten Liga als Erfahrung aufwies, aber, als Fußballer bei Barça groß geworden, mehr als jeder andere für den Stil steht. Im globalen Sport machte Guardiola Barça endgültig zum lokalen Team; in jedem Spiel stehen fünf bis sieben Spieler in seiner Elf, die in Barças Jugendzentrum mit dem einzigartigen Stil aufwuchsen. Zwei von ihnen, Xavi und Andrés Iniesta, den Guardiola zum Außenstürmer umformte, Komparsen bislang, haben nun Hauptrollen. Barça, das seine Sehnsucht nach Aufbruch am heutigen Dienstag in der Champions League gegen den FC Basel ausleben will, fühlt sich neu geboren: Die jüngsten elf Spiele gewannen sie alle. „Wir leben in der Unwirklichkeit“, sagt Guardiola.
Nur in diesem Verein konnte einer wie er zum Idol werden. „Wenn ich wiedergeboren werde, möchte ich Guardiola sein“, sagte Präsident Joan Laporta 2007. Guardiola war für einen Spitzenfußballer langsam, körperlich schwach – er triumphierte als Mittelfeldspieler mit den Werten Barças: schneller denken, sauberer passen. So kam er im Sommer auch ohne Trainererfahrung mit den besten Empfehlungen: „Pep ist ein Kranker“, sagte Xavi. „Als Spieler ging Pep vor jedem Pass alle Möglichkeiten im Kopf durch. Und abends im Bett dachte er vermutlich immer noch über jede Passoption nach.“ Guardiola beschäftigt sich besessen mit Fußball. Er ist der Protagonist der nächsten Trainergeneration, die taktisch und trainingsmethodisch den Fußball endlich auf das Niveau anderer Sportarten heben wird. Jede Woche entdeckt man bei Guardiola neue Details: Einmal suchte er – erfolgreich – den Sieg in der letzten halbe Stunde mit einem ungesehenen 3-3-4-Spielsystem, mit zwei Flügel- und zwei zentralen Stürmern. Er ließ das Team am Morgen eines Spieltags trainieren, schickte sie dann nach Hause, weil ihnen der Tag im Hotel zu lange würde, und traf sie abends zum Match wieder. Er gibt keine Einzelinterviews, um sich nicht mit zu vielen öffentlichen Auftritten zu verschleißen. Er rotiert die Spieler rücksichtslos, da bleibt auch einmal Weltmeister Henry für Frischling Pedro Ledesma Ersatz.
Das Traurige an Barças wiedergewonnener Schönheit ist, dass die Fußballszene in ihrem beschränkten Denken das Neue nicht preisen kann, ohne das Alte schlecht zu machen. Längst geht das Zerrbild um, Guardiola hätte eine unter Rijkaard verwahrloste Truppe in Himmelstürmer verwandelt. Die Wahrheit ist, dass wohl niemand und auch nicht Guardiola so eine besondere Elf schaffen wird wie Rijkaard, die 2006 einmal 18 Siege aneinander reihte. Bisher hat das neue Barça nur Illusion geweckt, dass wieder alles möglich ist. Gerard Piqué, der Teamclown, schaffte es sogar, dass unlängst für ihn allein nachts um eins nach einem Europacupspiel in Donezk der Duty-free-Shop geöffnet wurde. RONALD RENG