: Kein Genuss ohne Arbeit
Bildende Künstler engagieren Schauspieler, bauen Modelle, schreiben Geschichten. Das Festival „Fressen oder Fliegen“ im Berliner HAU-Theater verfolgt die Wechselwirkungen von Kunst und Bühne
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Wenn alles Medium sein kann, warum dann nicht auch Eiscreme? Vier neue Sorten hat der italienische Eismeister Osvaldo Castellari kreiert, die in ihrem Geschmack auf vier zentrale Begriffe der Kunst zielen: Körper, Gedächtnis, Archiv, Spektakel. Man könnte von jeder Sorte eine Kugel testen auf dem Festival „Fressen oder Fliegen“ im Berliner Theater HAU, allein schon nach dem Genuss des sehr leckeren und nahrhaften Körpereises, mit viel Vanille und Sahne ist man womöglich satt. In der Creme für das Gedächtnis aktivieren Pfirsich, Orange und Erdbeeren zusammen die Erinnerung der Geschmacksnerven, das Spektakeleis ist mit Pistazien, Nüssen, Cookies und Goldstaub übersät.
Doch kein Genuss ohne Arbeit. Denn während man schleckt und schmeckt, gibt es über der Bar im Foyer ein 20-minütiges Video zu sehen: Dort verfolgt man nicht nur, wie Castellari Früchte püriert und Sahne und Zucker abwiegt, sondern auch, wie der Kunsthistoriker Roberto Pinto ihn in computergestützten Vorträgen durch die Karriere der Begriffe Körper, Gedächtnis, Archiv und Spektakel jagt. Beide handeln im Auftrag von Tim Etchells, dem eigentlichen Autor der Videoinstallation, die er für die Manifesta 7 im italienischen Rovereto entwickelt hat. Diesem vielen Gequatsche zu folgen, italienisch mit englischen Untertiteln, über Bilder, die man nicht sieht, ist etwas anstrengend und auch, na ja, langweilig, bis man drauf kommt, dass man sich dazu am Eisstand um die Ecke eine Kugel holen kann.
Nicht in allen Installationen, die in allen drei Theatern des HAU das Tändeln und Pendeln zwischen Theater, bildender Kunst, Film und Performance verfolgen, klappt die Einbeziehung des Zuschauers als Akteur so reibungslos. Richtig Arbeit wird es bei der Gruppe Rimini Protokoll, die als Bundestagstrainer auftreten. Sie bieten jedem die Möglichkeit, sich in die Rolle der gewählten Volksvertreter einzufädeln und ihre Beiträge aus den letzten Debatten, zum Beispiel über die Finanzkrise, die einem per Kopfhörer zugespielt werden, möglichst synchron nachzusprechen. Eine eigenartige Übung, bringt doch schon der eigene Jargon der Politik die Zunge sehr schnell ins Straucheln.
Ganz traditionell darf man hingegen in der Rolle als Zuschauer Platz nehmen bei Katarzyna Kozyras 10- bis 20-minütigen Videos aus der Reihe „In Art Dreams come true“. Mehr noch, hier sind Fantum und Verehrung der Diva gefragt. Denn Katarzyna Kozyra trat als bildende Künstlerin in die Welt des Theaters, in die Welt von Oper, Tanz und Travestie mit dem Vorhaben ein, in all diesen Genres zum Star zu werden. Wie sie Stunden nimmt, trainiert, dem Auftritt entgegenfiebert und gefeiert wird, zeigen ihre Videos in ebenso opulenten wie grotesken Bildern, deren Verhältnis zum Starkult ironisch und obsessiv zugleich ist.
Die Stilisierung des eigenen Lebens zu einer Kunstfigur geht bei Katarzyna Kozyra sehr weit und ist eine deutlich andere Setzung als der Wunsch nach einer Annäherung zwischen Kunst und Leben, wie er etwa mit dem Begriff der „sozialen Plastik“ von Joseph Beuys formuliert wurde. Die Entgrenzung der Gattungen hat die Künstler seit Fluxus nicht mehr losgelassen, schon deshalb hat es Sinn, dass nun ein Theater unter dem Titel „Art into theatre – theatre into art“ dazu verschiedenen Positionen zusammenbringt.
Was sich aber seit den Sechzigerjahren entschieden geändert hat, ist nicht nur der gestiegene Aufwand – man denke nur an die Filme von Matthew Barney oder den Fotografen Thomas Demand, der es im HAU sehr kunstvoll regnen lässt –, sondern vor allem das Fehlen eines utopischen Moments, das lange die Überschreitung des Genres motivierte und auch legitimierte. Dass der über mehr als einen Sinn angesprochene Betrachter vom Konsumenten und Connaisseur zum nach Aufklärung dürstenden Lernenden werde, dieses Bild hegen hier wohl nur noch Rimini Protokoll. Mit ihren Reisen durch die bürgerlichen Institutionen gehören sie für das HAU freilich zu den wichtigsten Künstlern.
Selbst eine filmanalytische Arbeit wie die Installation „Fressen oder Fliegen“ von Harun Farocki und Antje Ehmann hat ebenso viel von einer Hommage wie von einer Dekonstruktion des tragischen Helden im Kino; aber was ihr fehlt, ist ein Außerhalb dieses Musters, ein Durchstoßen der Schicksalslinien. Auf sechs Leinwänden entfaltet sich nach und nach ein Leporello von Todesarten und Einsamkeiten, von Bewegungen auf die Kamera zu und von der Kamera weg, komponiert aus Ausschnitten von vielleicht 70 Jahren Filmgeschichte. Die Installation ist zugleich ein Archiv, das der Theorie von der filmischen Konstruktion des Scheiterns jede Menge Anschauungsmaterial bietet.
Immerhin ist das ein sinnlich schlüssigerer und viel angenehmerer Umgang mit Theorie als etwa bei Peter Friedl, zu dessen vierminütigem Video „King Kong“ ungefähr zehn Seiten erklärender Text gehören. Auf der Höhe der Erkenntnis zu agieren wird dabei zur anmaßenden Behauptung.
„Fressen oder Fliegen“. Bis 16. November im Berliner HAU, Vortrags- und Performance-Programm unter www.hebbel-am-ufer.de