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Archiv-Artikel

Die Lügen der Vorstädte

Lass uns noch einmal von vorne anfangen: „Zeiten des Aufruhrs“, Richard Yates’ Psychogramm einer amerikanischen Mittelschichtsehe, erscheint nach dreißig Jahren in deutscher Übersetzung

von MARION LÜHE

Auf den ersten Blick sind die Wheelers ein perfektes Paar. Frank, ein intelligenter und charmanter Endzwanziger mit jenem unaufdringlich guten Aussehen, „das einem Werbefotografen zur Darstellung eines kritischen Konsumenten von gut gemachter, aber preisgünstiger Ware dienen könnte“, arbeitet in einer angesehenen Elektronik- und Computerfirma. Seine Frau, die schöne April, die nach zwei Schwangerschaften nur ein wenig füllig um die Hüften ist, hat ihre Schauspielkarriere aufgegeben und scheint nun aller Welt beweisen zu wollen, „dass das Dasein einer schlichten, vernünftigen Hausfrau das Einzige war, was sie sich immer gewünscht hatte“. Zusammen mit ihren Kindern leben sie in einem gepflegten Vorort von New York, in dem jeden Abend zur Dämmerstunde die Rasensprenger angehen.

Doch der Schein trügt: Hinter den hübschen Vorgärten tobt ein Ehekrieg, der sich meist an harmlosen Äußerungen entzündet, allmählich zu handfesten Vorwürfen und wahren Hasstiraden steigert, um schließlich in langen Perioden des gegenseitigen Anschweigens zu enden.

Franks Job entpuppt sich als der denkbar ödeste, dessen einziger Vorteil darin besteht, „dass man jeden Morgen um neun sein Hirn abschalten und den ganzen Tag ruhen lassen kann“. Während er dem trostlosen Familien- und Büroleben durch eine Affäre zu entkommen versucht, versinkt seine Frau zwischen Shopping und alkoholgetränkten Nachbarbesuchen in Langeweile. In einem Anflug von Aufbruchsgeist gelingt es April, ihren Mann zu überreden, gemeinsam aus dem Alltagstrott auszubrechen und in Paris ein neues Leben anzufangen. Es folgt eine kurze Zeit der Euphorie, doch dann werden die Wheelers, die sich stets über ihre nachbarlichen Spießbürger erhaben fühlten, von den gesellschaftlichen Konventionen und Zwängen eingeholt, denen sie gerade erst zu entfliehen hofften.

In seinem 1961 erschienenen Roman, der unter amerikanischen Lesern bis heute Kultstatus genießt, zeichnet Richard Yates das ebenso präzise wie eindringliche Psychogramm einer Ehe, die von Beginn an den „Virus des Scheiterns“ in sich trägt. Mit beißender Komik registriert er Hass und Gewalt unter der dicken Oberfläche kitschiger Sentimentalität, die versteckten Demütigungen und zerstörerischen Selbstvorwürfe, die Abgründe, die sich noch hinter den trivialsten Äußerungen auftun. In gestochen scharfen Momentaufnahmen führt er die Tragik zweier Menschen vor, die ihre Situation recht klar durchschauen und doch nicht die Kraft aufbringen, sich aus diesem „Zustand totalen Selbstbetrugs“ zu befreien.

Doch nicht nur in den Szenen einer Ehe, auch in der ebenso luziden wie leichthändigen Schilderung des Arbeitslebens und der Cocktailpartys, der gesellschaftlichen Rituale und Zerstreuungen des amerikanischen Mittelstands, glänzt der 1926 geborene Autor. Wie durch ein Vergrößerungsglas gesehen erscheinen seine Beschreibungen des zermürbenden Büroalltags, „als betrachtete man ein großes stummes Insektarium mit hunderten von winzigen rosaroten Menschen in weißen Hemden, die ständig Schriftstücke hin und her schieben, stirnrunzelnd an Telefonen hängen und unter der erhabenen Gleichgültigkeit dahinziehender Frühlingswolken ihre leidenschaftliche kleine Pantomime vollführen“.

Geradezu lässig betreibt Yates die Demontage des amerikanischen Traums, sodass man die über vier Jahrzehnte seit dem Erscheinen des Buches kaum spürt. Hellsichtig beschreibt er Entwicklungen, die in den Fünfzigerjahren erst allmählich an Kontur gewinnen und doch heute nicht mehr wegzudenken sind: die Lockerung der rigiden Moralvorstellungen, die Beherrschung der Arbeitsabläufe durch den Computer und die ersten Vorboten des sich ankündigenden Fernsehzeitalters. Als Frank am Ende des Romans weinend durch die stillen Straßen läuft, dringen aus den Fenstern der hell erleuchteten Häuser nur Fersehgeräusche – „das Geschrei eines Komikers, gefolgt von kurz aufwogendem Gelächter und Applaus und der gleich darauf einsetzenden Musik einer Band“. Vor dieser Kulisse erscheint Franks tiefe Verzweiflung geradezu als Unverschämtheit.

Wie es schließlich zu der rabenschwarzen Tragödie hinter pastellfarbenen Fassaden kommt, die in einem kurzen Sommer das Leben der Wheelers gewaltsam zerstört, sei hier nicht verraten. Denn Yates’ fulminantes Debüt bietet nicht nur eine glasklare Analyse der „großen sentimentalen Lüge der Vorstädte“, sondern auch eine spannende Geschichte, die einen von der ersten Seite an fesselt und bis zur letzten nicht wieder loslässt. So elementar und mächtig habe der Appell dieses Romans auf zwei Generationen gewirkt, dass es fast einem Widerspruch gleichkomme, Yates’ großes Buch noch nicht zu kennen, schreibt sein Schriftstellerkollege Richard Ford im Nachwort. Dank einer hervorragenden deutschen Übersetzung lässt sich diesem Missstand nun – wenn auch mit einiger Verspätung – abhelfen.

Richard Yates: „Zeiten des Aufruhrs“. Aus dem Amerikanischen von Hans Wolf. DVA, Stuttgart 2002, 376 S. 19,90 €