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Archiv-Artikel

14 Kilometer vom Glück entfernt

Die Meerenge von Gibraltar ist die „Demarkationslinie zwischen Armut und Wohlstand“. Eine lesenswerte Analyse

14 Kilometer trennen Elend und Perspektivlosigkeit vom vermeintlichen Eldorado. 14 Kilometer, so weit ist der Weg von Afrikas Nordküste bis nach Spanien. Jährlich wollen zehntausende Menschen diese Distanz überwinden, um ihr Glück zu suchen, auch wenn sie wissen, dass hunderte dabei ihr Leben lassen. Die deutsche Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM) hat zusammen mit der Schweizer Solidarité sans frontières jetzt erstmals versucht zu analysieren, was die Menschen aus Marokko und Schwarzafrika dazu treibt, die gefährliche Überfahrt auf sich zunehmen.

Das FFM-Heft 9 mit dem Titel „Marokko Transit NON Stop“ untersucht die gesellschaftlichen Verhältnisse in Marokko sowie die Wünsche und Zukunftspläne derjenigen, die aus dem restlichen Afrika ins nordafrikanischen Königreich gereist sind, um „die Demarkationslinie zwischen Armut und Wohlstand“ zu überschreiten. Den Analysen und Interviews mit Betroffenen werden Untersuchungen über die europäische Migrationspolitik gegenübergestellt.

„Marokko Transit NON Stop“ zeichnet ein trauriges Bild. Über 80 Prozent der knapp 30 Millionen Marokkaner kennen nur einen Wunsch, die Ausreise. Über zwei Millionen haben dies bisher geschafft. Sie leben vor allem in der EU. Sie schicken mehr Geld nach Hause und sparen mehr an, als der gesamte marokkanische Exporterlös aus Phosphaten und landwirtschaftlichen Produkten beträgt.

Die Menschen fliehen vor der Armut, in der 65 Prozent der Bevölkerung leben. Die Mehrheit der Bevölkerung sind Analphabeten. Zwei Drittel der Landbevölkerung haben keinen Zugang zu Trinkwasser, in 87 Prozent der Haushalte gibt es keinen Strom und 93 Prozent sind ohne medizinische Versorgung.

Die Unzufriedenheit treibt die Menschen regelrecht aufs Meer. Allein Spanien greift jährlich 20.000 Marokkaner auf und schiebt sie wieder ab. Wie viele durch die Maschen schlüpfen, weiß keiner zu sagen. Abhilfe ist nicht in Sicht. Die demokratische Öffnung, die sich viele nach dem Tod des Monarchen Hassan II. vor vier Jahren erwarteten, blieb auch unter dessen Sohn und Thronfolger Mohamed VI. aus.

Seit Europa die Grenzen immer hermetischer abriegelt, kennt Marokko ein weiteres Problem. Die großen Städte und die Landstriche entlang der Nordküste füllen sich mit Schwarzafrikanern. Nach tausenden von Kilometern durch den Kontinent sind sie dort hängen geblieben. Sie suchen nach einer Möglichkeit, nach Spanien überzusetzen. Doch die Schlepper-Mafias haben ihren Preis, und dieses Geld in Marokko zu verdienen, ist fast unmöglich. Die Menschen, die heimlich durch Marokko reisen, werden so leicht „zum Objekt staatlicher Macht und Willkür“, fanden die Autoren heraus.

„Bei Flüchtlingen und Migrantinnen handelt es sich nicht um eine homogene Gruppe, auch existieren die ‚Illegalen‘ nicht als fest umrissene Schicht“, heißt es im Vorwort. Die Einwanderer in Europa – unter ihnen vor allem die Sans Papiers – sind deshalb ein Spiegel dessen, was in ihren Herkunftsländern geschieht. „Marokko Transit NON Stop“ lässt deshalb gezielt einzelne Gruppen zu Wort kommen, so etwa Kriegsflüchtlinge aus Schwarzafrika, Straßenkinder und Frauen, die heute über die Hälfte der Migranten stellen.

Das lesenswerte Buch beleuchtet, „ohne Anspruch, ein Länderbericht zu sein“, Marokkos Rolle bei der Migration von vielen Blickwinkeln aus. Und: es analysiert ebenso die Situation in den Aufnahmeländern wie die in Spanien, Frankreich oder Deutschland. „Marokko Transit NON Stop“ untersucht, wie „Europa die Zugbrücke hochzieht“, und bietet somit auch einen kritischen Beitrag zur immer restriktiveren europäischen Migrationspolitik. REINER WANDLER

Forschungsgesellschaft Flucht und Migration, Solidarité sans frontières: „Marokko. Transit NON Stop“, 159 Seiten, Assoziation A, Berlin et al. 2002, 9 €