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Archiv-Artikel

Pflegeversicherung altert rapide

Die Pflegeversicherung hat ein 400 Millionen Euro großes Loch. Das ist noch nicht schlimm, sie hat vorgesorgt. Allerdings nur bis 2006. Und was kommt dann?

Beide Versicherungen arbeiten nach verschiedenen Regeln, sagt die AOK

BERLIN taz ■ Abschaffen! Nicht antasten! Mit der Krankenversicherung zusammenlegen! Die Vorschläge, was mit der Pflegeversicherung zu geschehen habe, klaffen ungefähr so weit auseinander wie die Aussagen darüber, wie es dem „fünften Bein“ der Sozialversicherung gehe: Pleite? Prima? Nicht dauerhaft gut jedenfalls.

Gestern nun bestätigte der Präsident des Bundesversicherungsamtes Rainer Daubenbüchel, was Ulla Schmidts Sozialministerium bereits im Januar verlautbart hatte: Die gesetzliche Pflegeversicherung hat im vergangenen Jahr 400 Millionen Euro Miese angehäuft. Das klingt dramatisch. Ist es aber nicht, behauptet das Ministerium und warnte gestern erneut vor „Panikmache“: Denn die Pflegeversicherung hat bei ihrer Einrichtung im Jahr 1995 Rücklagen gebildet, mit denen die abzusehenden Strapazen abgefedert werden sollen. Fast fünf Milliarden Euro liegen noch auf der hohen Kante, und die sollen bis mindestens 2006 reichen.

So gesehen läuft also in der Pflege alles nach Plan. Bis 2006 wird mit stabilen Beitragssätzen von 1,7 Prozent vom Bruttoeinkommen gerechnet.

Was dann ist, weiß freilich niemand so genau. Denn die Zahl der Pflegebedürftigen nimmt eher zu, und für 1,7 Prozent Beiträge lassen sich jedes Jahr weniger Leistungen einkaufen. Derzeit erhalten etwa 1,9 Millionen Menschen Leistungen im Wert von etwa 16 Milliarden Euro jährlich. Doch trotz aller Bemühungen, die ambulante Pflege zu stärken, steigt der Anteil in Heimen Untergebrachter eher, und die Pflegedienste stöhnen, dass ihre Arbeit nicht mehr angemessen bezahlt werde.

Deshalb steht die Pflegeversicherung auch am 20. März auf der Tagesordnung der Rürup-Kommission zur Sanierung der Sozialsysteme. In der Kommission fordert etwa die Vorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und ehemalige hessische Sozialministerin Barbara Stolterfoht (SPD), dass die gesamte Pflegeversicherung steuerfinanziert werden soll, um die Lasten auf „breitere Schultern“ zu verteilen, wie sie sagt.

Steuerfinanzierung halten nun die meisten Protagonisten der Reformdiskussion für unmöglich. „Das ist grober Unfug“, sagte gestern Exgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) zur taz. Denn „das Geld sieht im Bundeshaushalt niemand“. Seehofer bezeichnet sich selbst als „Hebamme“ der Pflegeversicherung; den Titel des „Vaters“ trägt Exarbeitsminister Norbert Blüm (CDU). Er stehe zur solidarischen Absicherung des Pflege-Risikos, sagt Seehofer, aber: „Es ist grob fahrlässig, die Situation der Pflegeversicherung schönzureden.“

Seehofer verlangt, dass mit der diesjährigen Gesundheitsreform auch eine Reform der Pflegeversicherung unternommen wird. „Es muss eine Parallellösung geben“, erklärte Seehofer gegenüber der taz. „Wenn die Koalition in ihrem für Mai erwarteten Gesetzentwurf die Pflege nicht berücksichtigt, werden wir darauf drängen.“ Seehofer fordert, dass die Pflege- und die Krankenversicherung zusammengelegt werden. Dadurch ließen sich fürs erste „Bürokratie- und Verwaltungskosten einsparen“.

Mit dieser Haltung steht die Opposition nicht allein. Auch der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung Karl Hermann Haack (SPD) fordert eine Zusammenlegung. Die Krankenkassen und die unter ihrem Dach eingerichteten Pflegekassen „arbeiten nach dem Prinzip linke Tasche – rechte Tasche“, sagte Haack zur taz. Die Krankenkassen und die Pflegekassen versuchten, sich gegenseitig die Kosten zuzuschieben. Dies führe dazu, dass Pflegebedürftige unnötig lange etwa auf Hilfsmittel wie Rollstühle und Ähnliches warten müssten, weil sich die Kassen nicht einig werden könnten.

Seehofer fordert die Zusammenlegung von Pflege- und Krankenversicherung

Mit derselben Argumentation plädiert auch Walter Hirrlinger, Vorsitzender des Sozialverbands VdK, für eine Zusammenlegung. „Die Abgrenzungsprobleme, was Pflege und was Krankheit ist, werden immer auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen“, sagt Hirrlinger. Ebenso hat sich auch der Deutsche Gewerkschaftsbund schon geäußert: Dauerhaft sei ohnehin nicht zwischen einer chronischen Krankheit und Pflegebedürftigkeit zu unterscheiden, sagt DGB-Vizechefin Ursula Engelen-Kefer.

Die Krankenkassen jedoch sind gegen eine Zusammenlegung. Vor allem die AOK, bei der 38 Prozent aller gesetzlich Versicherten, aber 60 Prozent aller Pflegebedürftigen versichert sind, verlangt, die Unterschiede der beiden Systeme zu respektieren. „Die Pflegeversicherung ist eine Grundsicherung. Sie soll nicht und sollte nie alle entstehenden Pflegekosten abdecken“, sagt AOK-Sprecherin Martina Sitte. Die Krankenkasse dagegen müsse alle medizinisch notwendigen Leistungen bezahlen und arbeite daher grundsätzlich nach anderen Regeln. Die Angriffe auf die Pflegeversicherung entbehrten angesichts der stabilen Reserven einer sachlichen Grundlage: „Das Kriegsgeschrei ist nicht berechtigt“, sagte Sitte der taz.

ULRIKE WINKELMANN