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Archiv-Artikel

Absage an die Neoliberalen

Der Sieg der Linken in Deutschland […] war ein Sieg gegen einen Trend in fast allen anderen europäischen Ländern. Die Bundestagswahl war eine explizite Richtungswahl. Rot-Grün hat sie ebenso gewonnen, wie Schwarz-Gelb sie verlor.

CDU/CSU und FDP waren auf den beiden wahlentscheidenden Feldern Modernisierung und Gerechtigkeit nicht kompetent. Stoiber galt nicht als Mann des solidarischen Ausgleichs. Vor allem aber wurde ihm wegen seiner kulturellen Rückständigkeit die Modernisierungskompetenz abgesprochen. Westerwelle war ohnehin schon das Symbol der Ellbogengesellschaft. Er verspielte die Modernisierungskompetenz der FDP durch den Klamauk seines Spaßwahlkampfes. Hinter diesen Tatsachen verschwand die Unentschiedenheit der SPD in der Modernisierungsfrage, die nach der Wahl so offenbar wurde, fast vollständig. […]

Zwar hatten die Themen Flut und Irak besonders WählerInnen der SPD im Osten mobilisiert und die PDS marginalisiert. Allein dies hätte aber nicht zum Wahlsieg gereicht. Erst das Ergebnis der Grünen sicherte der Linken die Mehrheit. Die durch Grüne in der Regierung bewiesene Kompetenz bei der ökologischen Modernisierung, in der Umwelt- und Verbraucherpolitik hatte überzeugt. Für diese Kompetenz ließen sich Wähler, mehrheitlich Wählerinnen, voll mobilisieren. Mit einer klaren Positionierung zu einem Irakkrieg wurden unzählige über den Kosovokrieg verlorene WählerInnen zurückgewonnen. […]

Das Ende der 90er-Jahre eilfertig ausgerufene sozialdemokratische Zeitalter in Europa fand mit den Siegen der Rechten in Italien, in Frankreich und schließlich in Dänemark und den Niederlanden sehr schnell wieder ein Ende. […] Der Verlust der Mobilisierungsfähigkeit der Linken führte zu teilweise erdrutschartigen Verschiebungen. Dieses Phänomen hat auch die jüngsten Landtagswahlen in Niedersachsen und Hessen geprägt. Die Ursache […] war die Verletzung tief sitzender Gerechtigkeitsbedürfnisse der Menschen. Wer zwei Wochen vor einer Wahl ankündigt, dafür sorgen zu wollen, dass ältere Arbeitnehmer leichter rausgeschmissen werden können, darf sich nicht wundern, wenn seine Partei mit einem beachtlichen WählerInnenpotenzial bei den über 60-Jährigen in Niedersachsen mit über 700.000 Stimmen fast ein Drittel ihrer WählerInnen verliert. Die absoluten Verluste der SPD waren mehr als doppelt so hoch wie die Gewinne der CDU. […]

Der Schlüssel für die Mehrheitsfähigkeit liegt in der Frage, wer die Themen Gerechtigkeit und Erneuerung besetzt. Eine bloß strukturkonservative Linke hat keine Existenzberechtigung. Das erfährt gerade die PDS. Eine bloß modernisierende Linke aber droht zum Opfer der sozialen Demagogie einer neuen Rechten zu werden. Der Widerspruch zwischen Modernität und Gerechtigkeit, ob man ihn nun als Clement gegen Müntefering oder zwischen Grünen und SPD buchstabiert, ist in Wahrheit die Schlüsselfrage für die Mehrheitsfähigkeit der Linken. […]

Bisher war von Linken und Rechten die Rede. Die Frage muss erlaubt sein: Gibt es überhaupt eine Linke? Gibt es überhaupt eine Rechte? Bei der Beantwortung dieser Frage gibt es einen eigentümlichen Widerspruch zwischen den politischen Eliten der Linken und ihrer Wählerschaft und Basis.

In der politischen Melange der Hauptstadt zwischen Politik und Presse ist es en vogue, sich ostentativ solchen Zuordnungen zu entziehen. Danach gäbe es keine linke oder rechte, sondern nur moderne oder unmoderne Wirtschaftspolitik. Andere meinen, sie seien nicht links, nicht rechts, sondern vorne – in Wahrheit aber oft abseits. Diese ostentative Nichtverortung ist auf der Linken ausgeprägter als auf der Rechten.

Diese Nichtverortung wird von den WählerInnen nicht geteilt. Egal, ob man die Bundestagswahl als „Lagerwahlkampf“ oder als „Kulturkampf“ beschreibt: Am Ende hatte das linke Lager diesen Kampf gewonnen. […]

Die politische Elite der Linken ist gut beraten, dieses nicht als Betriebsunfall gering zu schätzen. Denn hinter diesen Verortungen verbergen sich langfristige Trends und Grundeinstellungen. Das gilt vor allem für die Kompetenzen, die WählerInnen zur Linken wie zur Rechten ihren Parteien zuweisen. […] Der Vorrang für Gerechtigkeit vor der blinden Macht Ökonomie ist die strukturelle Gemeinsamkeit in der sozialen Basis von Rot-Grün.

Interessant ist, dass Gerechtigkeit für Grünen-Anhänger zwar einen fast so hohen Wert wie bei der SPD hat – das mit Abstand größte Gewicht aber messen sie mit 62 Prozent der Umweltpolitik zu. Wie weit die politischen Milieus der Schwarzen und Gelben davon entfernt sind, belegt die Antwort der FDP und CDU-Anhänger auf die Wichtigkeit der Umweltpolitik: Nur 3 Prozent finden sie wichtig. Die oft behauptete wertkonservative Gemeinsamkeit zwischen Schwarz und Grün lässt sich bei der Kompetenzzuweisung empirisch nicht belegen. Schwarz-grüne Koalitionen dürften bis auf weiteres Ausnahmen für Situationen sein, in denen die Rechte alleine nicht mehrheitsfähig ist und die SPD völlig desavouiert ist […]. Mehrheitsfähig wird die Linke, wenn sie ihre Politik an diesen Erwartungen ausrichtet und ihre Kompetenzen berücksichtigt, anstatt sie von oben herab permanent zu dementieren. […]

Aus der hohen Bedeutung der sozialen Gerechtigkeit lässt sich die Scheidelinie zwischen links und rechts definieren: Das ist das Primat der Politik gegenüber der Ökonomie. Es ist nicht die Absage an die Ökonomie, nicht der Widerspruch zwischen Plan- und Marktwirtschaft, sondern ein Gesellschaftsbild, das der Ökonomie einen politisch gestalteten und demokratischen Rahmen vorgibt, in dem diese sich entfalten soll. Das ist eine Absage an die neoliberale Ideologie, die Gesellschaft den Regeln der Betriebswirtschaftslehre unterordnen will.

Mit der Forderung nach sozialer Gerechtigkeit aber bliebe die Linke der Betriebsrat der Nation – also in der Minorität. Ihre Gestaltungs- und Mehrheitsfähigkeit gewinnt sie aus einer gesellschaftlichen Zielvorstellung, die über den Tag hinausweist. Diese muss sich der Schlüsselfrage stellen, wie die Lebensbedingungen für kommende Generationen zu sichern und zu verbessern sind – und dies weist unmittelbar auf die Frage der Ökologie. […]

Mut ist auch bei der Erneuerung des Sozialstaates gefordert. Die anhaltende Arbeitslosigkeit, unstetere Arbeitsverhältnisse und Frühverrentungen lassen die Einnahmen der sozialen Sicherungssysteme sinken, während die Leistungen steigen. Gelingt es nicht, die Systeme der Arbeitslosenversicherung, der Renten und Krankenkasse zu reformieren, verlieren sie ihre Akzeptanz. Die Alternative zur gründlichen Erneuerung des Sozialstaates ist seine Abschaffung und nicht der Status quo. […]

Der Begriff der Reform droht inzwischen den gleichen Gehalt zu bekommen wie am Ende der Ära Kohl. Für die von ihr Betroffenen droht Reform zum Synonym für Leistungsverkürzung zu werden – und das Berufen auf den Reformmotor hört sich für viele verdächtig nach dem Knattern des Rasenmähers an, zumal viele der angekündigten Einzelmaßnahmen nicht als bittere Notwendigkeit, sondern als intelligente Idee abgefeiert werden. […]

Das gilt vor allem für die strapazierte Generationsgerechtigkeit. So ist die Konsolidierung des Haushaltes nur zum Teil ein Problem der Gerechtigkeit zwischen der heutigen und den kommenden Generationen – es entsteht zunächst durch mangelhafte Verteilungsgerechtigkeit. Staatsverschuldung ist Ausdruck des Umstandes, dass man sich das Geld bei den Kassen leiht und dafür Zinsen zahlt, weil man es durch Besteuerung nicht bekommt. Erst durch mangelhafte Verteilungsgerechtigkeit entsteht ein Problem zwischen den Generationen.

Dass Sozialversicherungssysteme in Richtung einer Bürgerversicherung umgebaut gehören, um die Belastung des Faktors Arbeit mit den Kosten für die soziale Sicherung der gesamten Gesellschaft zu mindern, kann als Konsens gelten. Dort aber, wo dieses nicht – beziehungsweise nicht so schnell wie gewünscht – zu erreichen ist, nun den Verteilungskampf zwischen unterschiedlichen Altersgruppen auszurufen, ist nicht zielführend. […]

Es kann ja sein, dass wir um eine Reihe solcher Maßnahmen aufgrund der aktuellen Krisen nicht herumkommen, aber mit Generationengerechtigkeit hat eine Kürzungsoperation zulasten der älteren Generation nichts zu tun. Sie stellt allerdings – wegen des Wegbrechens der sozialdemokratischen Milieus – die Mehrheitsfähigkeit der Linken insgesamt infrage und eröffnet auch keine andere, etwa schwarz-grüne Perspektive. Auf Grüne sind CDU und FDP dann – siehe Hessen, siehe Niedersachsen – nicht mehr angewiesen.

Aber auch Grüne sollten nicht glauben, dass diese Entwicklung ihren Bestand an Wählerinnen und Wählern nicht gefährden könnte, nur weil sie immer noch die jüngste Partei im Lande sind. Denn erstens lieben auch junge Menschen ihre Eltern und Großeltern gelegentlich. Und zweitens ist vielfach noch nicht hinreichend begriffen worden, was die Umsetzung des Hartz-Konzepts in die Praxis für viele grüne Milieus bedeutet. Der Wegfall kommunaler Beschäftigungsgesellschaften, die Einschränkungen bei der Fort- und Weiterbildung, der Rückgang von ABM – all dies wird eine Branche von sozialen Dienstleistern, von kleinen Selbstständigen bis zu Angestellten großer Bildungsinstitute durcheinander wirbeln und tausende den Arbeitsplatz kosten.

Das Grundsatzprogramm der Grünen stellt Gerechtigkeit und Selbstbestimmung nach vorne. Es geht dabei aber von einem erweiterten und nicht von einem auf vermeintliche Generationengerechtigkeit verengten Gerechtigkeitsbegriff aus. Gerechtigkeit in diesem Sinne beinhaltet Gerechtigkeit in der Verteilung – auch der Lasten, die eine Erneuerung mit sich bringt – zwischen den Generationen und zwischen den Geschlechtern. Und sie beinhaltet die Forderung nach globaler Gerechtigkeit.

Der aktuelle Konflikt um den Irakkrieg ist im Kern eine Auseinandersetzung um die Frage der Anerkennung der Unilateralität der einzigen verbliebenen globalen Macht gegenüber dem Vorrang einer verrechtlichten Multilateralität. Dieser Konflikt hat die einst fast synonym erscheinenden beiden Säulen der Westeinbindung Deutschlands – die Einbindung in der EU und die transatlantische Einbindung in der Nato – in einen Widerspruch gebracht. Dieser wird sich mit einer Lösung im Irak – wahrscheinlich einer kriegerischen – nicht einfach und nicht einseitig auflösen, sondern fortdauern.

In diesem Konflikt liegt aber auch eine Chance für Mobilisierung und Mehrheitsfähigkeit. Die Arroganz, mit der Rumsfeld gegen das alte Europa vom Leder zog, hat die Zustimmung der Bevölkerung zur Politik von Gerd Schröder und Joschka Fischer erhöht. Deshalb ist die Wahrung und Stärkung der Einheit Europas eine Schlüsselfrage.

Europa ist der einzige ernst zu nehmende Gegenspieler der USA. Die Angst vor der Globalisierung war vielfach für die Rechte ein Plus, insbesondere in der Zuwanderungsfrage. Die Linke wird diese Angst nur nehmen und die Menschen für sich einnehmen können, wenn sie der Globalisierung einen sozialen und ökologischen Rahmen gibt, wenn sie auch global für das Primat der Politik gegenüber der Ökonomie sorgt. […]

Deutschland steht nicht vor einer neuen großen Koalition. Im Gegenteil, es ist damit zu rechnen, dass die unterschiedlichen Mehrheiten in vielen Fällen zu einer neuen Polarisierung führen, z. B. bei den Themen Einwanderung und Subventionsabbau.

In diesen Auseinandersetzungen wird die Seite bestehen können, die für das unter den Gesichtspunkten Gerechtigkeit und Modernisierung drängendste Problem, die Minderung der Arbeitslosigkeit, Antworten findet. Antworten werden nicht auf der Ebene einzelner Maßnahmen zu finden sein, da wird es viele, auch unpopuläre Maßnahmen geben. Entscheidend wird sein, dass die Gesamtbotschaft stimmt. […]

Wir müssen uns endlich von der Schimäre verabschieden, Wachstum schaffe Arbeitsplätze. Die dafür zu erreichenden Wachstumsraten sind nur noch in Ausnahmefällen zu erreichen. Richtig ist vielmehr, was Bert Rürup jüngst bemerkte: Arbeitsplätze schaffen Wachstum. Wir müssen in neue Arbeit investieren.

Dann ist die erste Aufgabe: die Kosten des Faktors Arbeit senken – ohne die Inlandsnachfrage weiter zu schwächen. Bei VW und in der Stahlindustrie spielt das keine Rolle. Von dieser industriell geprägten Vorstellung müssen wir uns verabschieden. Die Masse des Arbeitsplatzabbaus findet heute im Dienstleistungsbereich statt. Dort aber spielt die Frage der Belastung des variablen Kapitals mit den – gesamtgesellschaftlichen – Kosten der sozialen Sicherung eine zentrale Rolle. Also bedarf es einer deutlichen und dauerhaften Senkung der Sozialversicherungsbeiträge.

Die zweite Aufgabe ist: Die Nachfrage muss gestärkt werden […]. Hierfür gibt es zwei grundsätzliche Wege: staatliche Investitionsprogramme oder das Vorziehen der 3. Stufe der Steuerreform auf 2004. Dies stellt die haushaltspolitischen Prioritäten in Frage. Wenn es eintritt, dass die Union im Bundesrat den Subventionsabbau blockiert, und wenn ein neuer Irakkrieg die Investitionsneigung weiter reduziert und die Energiekosten erhöht, dann wird Deutschland sich von einer Priorität der Haushaltskonsolidierung verabschieden müssen, wollen wir uns nicht in eine Deflation sparen.

Ich habe aus ökologischen wie arbeitschaffenden Gründen für blinde Ausgaben in den Straßenbau wenig, für gezielte Maßnahmen zur Wärmedämmung im Altbaubestand sehr viel übrig. Alternativ oder ergänzend zu Letzterem würde ich ein Vorziehen der Steuerreform befürworten. Dem Einwand, dass dies nur die Sparquote erhöhe, kann begegnet werden. Die Menschen sparen nur, wenn sie das Vertrauen in ihre soziale Sicherheit verlieren.

Deshalb ist es auch gerade aus wirtschaftspolitischen Gründen notwendig, die Erneuerung mit einer Offensive für soziale Gerechtigkeit zu verbinden.