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Archiv-Artikel

Ein Wochenende am Telefon

VON RALF SOTSCHECK

Tony Blair hat eine der schwierigsten Wochen seiner bisherigen Amtszeit vor sich. Daran ist er freilich nicht unschuldig. Morgen muss er zunächst die Abstimmung über die Erhöhung der Studiengebühren überstehen. Einen Tag später veröffentlicht Lordrichter Brian Hutton seinen Bericht über den Tod des Wissenschaftlers David Kelly, den die britische Regierung mehr als 30-mal zu Waffeninspektionen in den Irak geschickt hat.

Die Studiengebühren und Kellys Tod haben eigentlich nichts miteinander zu tun, doch Blair hat unfreiwillig einen Zusammenhang geschaffen. Er hat angedeutet, dass er die Vertrauensfrage stellen werde, sollte er die Abstimmung über die Studiengebühren verlieren. Manch Labour-Hinterbänkler sieht darin eine gute Gelegenheit, Blair wegen seiner dubiosen Begründungen für den Irakkrieg eins auszuwischen.

Zwar spricht der Premierminister schon lange nicht mehr von seiner Überzeugung, dass Massenvernichtungswaffen im Irak gefunden werden, aber er war sich bis vor ein paar Tagen noch sicher, dass zumindest Hinweise auf ein Waffenprogramm entdeckt werden würden. Der Rücktritt des CIA-Mannes David Kay, der für die Suche nach diesen Waffen im Irak zuständig war, kam für Blair zum ungünstigsten Zeitpunkt, da Kay in seiner letzten Pressekonferenz am Freitag erklärte, dass es diese Waffen nie gegeben habe. Dabei wollte Blair von diesem Thema ablenken, als er im vorigen Sommer die Studiengebühren als Nebenkriegsschauplatz eröffnete.

Dieser Plan ist gründlich schief gegangen. Dank Blairs Taktik ist die relativ moderate Reform der Studiengebühren zu einem Thema aufgebläht worden, das über Blairs politische Zukunft entscheiden könnte. Es geht darum, dass die Universitäten die Gebühren für bestimmte Kurse bis zu einem Höchstbetrag von 3.000 Pfund festlegen sollen. Bisher zahlen die Studenten rund 1.000 Pfund. Die Labour-Rebellen argumentieren, dass Eliteanstalten wie Oxford und Cambridge dann nur noch Studenten aus reichen Elternhäusern offen stehen werden, während die anderen mit mittelmäßigen Universitäten vorlieb nehmen müssen.

156 Labour-Abgeordnete haben den Antrag unterzeichnet, mit dem die Regierung von ihrem Vorhaben abgebracht werden sollte. Stimmen morgen 81 von ihnen gegen den Gesetzentwurf, muss er eingemottet werden. Eine Stichprobe des Guardian ergab, dass rund 60 Prozent der Antragsunterzeichner auf jeden Fall Nein sagen werden – das wären 93 Hinterbänkler.

Einer von ihnen, John McDonnell aus Hayes, sagte: „Ich würde sogar durch ein Meer von Erbrochenem schwimmen, um dagegen zu stimmen.“ Paul Flynn, Abgeordneter für Newport, fügte hinzu: „Sie müssen mir schon das Hirn herausoperieren, wenn ich dafür stimmen soll.“ Vier Rebellen, die zurzeit an einer Sitzung des Europarats in Straßburg teilnehmen, zahlen ihre Rückflüge aus eigener Tasche, um rechtzeitig zur Abstimmung in London zu sein. Den loyalen Labour-Abgeordneten wird der Flug dagegen aus der Parteikasse bezahlt.

Und vielleicht lässt sich der ein oder andere potenzielle Rebell ja noch umstimmen. Brian Iddon aus Bolton: „Ich hasse die Vorstellung, auf derselben Seite wie Tory-Chef Howard zu stehen. Ich sagte zu Tony Blair, dass mir schwindlig ist. Im Herzen bin ich loyal zur Partei, aber mein Bauch sagt mir, ich soll gegen die Gesetzesvorlage stimmen.“ Es sind Abgeordnete wie Iddon, die am Wochenende fieberhaft bearbeitet wurden. Fraktionsführerin Hilary Armstrong hat die größte Labour-Rettungsaktion seit 1979 ausgerufen. Damals versuchte man vergeblich, Labour-Premier Jim Callaghan vor einem Misstrauensvotum zu bewahren.

Auch Blair und seine Kabinettskollegen verbrachten das Wochenende am Telefon, um wankelmütige Rebellen auf Parteilinie zu bringen. Ein früherer Minister hält den ganzen Reformplan jedoch für unausgegoren. „Es ist die Nacht der Amateure beim Bildungsministerium“, sagte er. „Sie haben ihre Hausaufgaben nicht gemacht.“ Denn selbst wenn die Gesetzesvorlage verabschiedet werden sollte, kommt keine nennenswerte Summe herein. Die Studiengebühren, die erst nach Berufseintritt der Studenten und dann erst ab einer bestimmten Gehaltsstufe in Raten bezahlt werden sollen, bringen pro Jahr lediglich so viel Geld ein, wie das Gesundheitsministerium täglich ausgibt.

Die Revolte der Hinterbänkler

Der New Statesman, der meist regierungskritisch ist, wundert sich denn auch über die Rebellen. „Es ist ungewöhnlich“, schreibt das Magazin, „dass die Hinterbänkler, die fünf Kriege, unzählige Privatisierungen, die Inhaftierung von Flüchtlingen sowie den Abbau von Bürgerrechten geschluckt haben, plötzlich zur Revolte bewegt werden, um Studenten aus der Mittelschicht davor zu bewahren, etwas mehr zu den Kosten ihrer Ausbildung beitragen zu müssen.“

Blair muss heute Überstunden einlegen, denn irgendwann am Nachmittag wird ihm – wie auch den anderen Beteiligten – der Hutton-Bericht zur Untersuchung des Todes von David Kelly zugestellt. Der Wissenschaftler im Dienst des Verteidigungsministeriums hat sich Mitte Juli vergangenen Jahres offenbar umgebracht, nachdem er von der britischen Regierung als Quelle für einen BBC-Bericht bloßgestellt worden war. In der betreffenden Radiosendung wurde im Mai behauptet, Blairs damaliger Chefsprecher Alastair Campbell hätte verlangt, das Regierungsdossier vom September 2002 aufzubauschen und die vom Irak ausgehende Gefahr zu übertreiben, um die Kriegstrommel besser rühren zu können.

Campbell und Blair reagierten mit einem Feldzug gegen die BBC, der in seiner Heftigkeit überraschte. Es begann eine regelrechte Hexenjagd auf den BBC-Informanten. Einen schlimmeren Vorwurf könne man einem Premier nicht machen, sagte Blair: „Der Bericht schadete meiner Glaubwürdigkeit als Premierminister, und wenn er wahr gewesen wäre, hätte ich zurücktreten müssen.“

Inzwischen weiß man, dass der BBC-Bericht in seinem Kern wahr ist. Im Entwurf für das Dossier hieß es, der Irak „bemühte sich um Uran“. Die veröffentlichte Version lautete: Der Irak „sicherte sich Uran“. Und war er zunächst „möglicherweise in der Lage“, seine Massenvernichtungswaffen binnen 45 Minuten zu aktivieren, so war das in der Endfassung zum Faktum geworden. Die Korrekturen kamen aus Blairs Amtssitz in der Downing Street. Die entsprechenden E-Mails liegen vor. Hutton hat mehr als tausend Dokumente ins Internet gestellt. Das ist ein beispielloser Vorgang. Normalerweise muss man 30 Jahre darauf warten, die Regierenden können dann nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden.

Die Frage ist jedoch, wie weit Hutton in seinem Bericht gehen und wem er Schuld zuweisen wird. Er sollte eigentlich nur die Umstände untersuchen, die zu Kellys Tod führten. Unter anderem muss er die Frage beantworten, wer den Wissenschaftler eigentlich an den Pranger gestellt hat. Das Verteidigungsministerium hatte ein Frage-und-Antwort-Spiel ausgeheckt, bei dem Journalisten den Namen der BBC-Quelle raten konnten, und als der richtige genannt wurde, nickte man. „Die Grundidee war, dass man den Namen nicht offen nennen, aber auch niemand in die Irre führen wollte“, sagte Blair. „Der Name wäre ohnehin irgendwann herausgekommen.“ Vier Tage nach Kellys Tod hatte Blair auf die Frage, ob er die Bloßstellung Kellys autorisiert habe, geantwortet: „Ganz bestimmt nicht. Ich habe die Veröffentlichung von Kellys Namen nicht autorisiert.“

Verteidigungsminister Geoff Hoon, der als Sündenbock auserkoren war, weigert sich, die ihm zugedachte Rolle zu spielen. Er sagt stattdessen, dass die Entscheidung, Kellys Namen durchsickern zu lassen, direkt von Blair getroffen wurde. Hoons Aussage ermöglichte einen erstaunlichen Einblick in die Arbeitsweise des Kabinetts.

Minister wurden marginalisiert

Der Minister behauptete, dass er und andere Kabinettsmitglieder während des gesamten Konflikts um den Irak marginalisiert waren. Die Entscheidungen wurden ausschließlich von Blair und seinen Beratern getroffen – also auch die Entscheidung, Kelly im Juli vor den Parlamentsausschuss zu zerren?

Der Wissenschaftler war bei dieser Vernehmung, die live im Fernsehen übertragen wurde, nervlich am Ende. Man hatte ihm vor der Vernehmung nahe gelegt, seine Gedanken über das Irakdossier für sich zu behalten. Dem Vorsitzenden des Ausschusses, Blairs Parteifreund Donald Anderson, wurde geraten, keine Fragen in dieser Richtung zu stellen. Wenige Tage später nahm sich Kelly das Leben, daran besteht trotz mancher Verschwörungstheorie wohl kein Zweifel.

Das wird auch in Huttons Bericht stehen, wenn er am Mittwoch veröffentlicht wird. Blair will am Nachmittag eine kurze Erklärung dazu abgeben, eine Woche später wird das Unterhaus über den Bericht debattieren. Ob damit die Kelly-Affäre abgeschlossen ist, bleibt abzuwarten. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass die Polizei dem Lordrichter nur einen Bruchteil der Verhörprotokolle übergeben hat. Die restlichen Unterlagen hielten die Beamten für irrelevant. Der zuständige Leichenbeschauer, Nicholas Gardiner, muss entscheiden, ob ihm diese Begründung ausreicht. Tut sie es nicht, kann er seine eigenen Untersuchungen anstellen. Es ist durchaus möglich, dass Tony Blair seinen Posten als britischer Premierminister auch am Ende dieser Woche weiter innehat, der Albtraum jedoch wird weitergehen.