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Archiv-Artikel

Neuer Premierminister in Ankara

AKP-Chef Tayyip Erdogan mit Regierungsbildung beauftragt. Druck aus Washington

ISTANBUL taz ■ Seit Dienstagabend hat die Türkei einen neuen Regierungschef. Nachdem Premier Abdullah Gül am Nachmittag wie angekündigt den Stuhl geräumt hatte, beauftragte Staatspräsident Sezer den Chef der AKP, Tayyip Erdogan, mit der Bildung einer neuen Regierung.

Wäre nicht die Gefahr eines Kriegs gegen den Irak, könnte Erdogan einen echten Triumph feiern. Nie zuvor in der Geschichte der türkischen Republik ist es einem Mann aus ärmsten Verhältnissen, noch dazu mit einem islamischen Hintergrund, gelungen, sich bis an die Spitze der Regierung zu kämpfen. Doch das Ereignis verschwindet hinter der Drohkulisse des Krieges.

Noch vor Staatspräsident Sezer sprach US-Präsident Bush am Telefon mit dem neuen Ministerpräsidenten und drängte ihn, nun schnell dafür zu sorgen, dass das Parlament erneut über die Stationierung von US-Truppen abstimmt und den Weg frei macht für den Aufbau einer Nordfront im Irak. Von Erdogan erwartet Washington, dass er seine Fraktion besser im Griff hat als sein Vorgänger Gül und nun dafür sorgt, dass genügend Jastimmen zusammenkommen.

Erdogan hat bislang öffentlich noch kein Datum für eine neue Parlamentssitzung genannt, doch angesichts der Geschwindigkeit, mit der der Wechsel im Amt des Ministerpräsidenten vollzogen wurde, wird schon für das kommende Wochenende eine neue Abstimmung erwartet. Die meisten AKP-Abgeordneten sind zwar gegen eine türkische Beteiligung am Krieg, doch werden sie wahrscheinlich ihrem Parteichef nicht gleich in der ersten kritischen Situation die Gefolgschaft verweigern.

Der Amtsantritt Erdogans ist von einem weiteren außenpolitischen Ereignis überschattet. Just am selben Tag, an dem Erdogan den Auftrag zur Regierungsbildung erhielt, erklärte UN-Generalsekretär Kofi Annan seine Bemühungen um eine Lösung des Zypernkonflikts für endgültig gescheitert. Erdogan, der in den letzten Monaten mehrfach den türkischen Volksgruppenführer Rauf Denktasch für seine wenig konstruktive Verhandlungsführung kritisiert hatte, wurde damit vom Militär und anderen nationalistischen Kreisen schwer düpiert. Er kündigte gestern zwar an, die Verhandlungen fortzusetzen, doch die Zeit läuft ihm davon. Wenn im April der Beitritt des griechisch kontrollierten Teils Zyperns zur EU unterzeichnet wird, steht die Türkei vor einer neuen Situation. Kommentatoren sagen sogar, dass die Tür zur EU für die Türkei damit endgültig geschlossen sein könnte.

JÜRGEN GOTTSCHLICH