piwik no script img

Archiv-Artikel

Nicht hier, sondern auf dem Sonnendeck

Winterspaziergänge (Teil 1): Früher wurde auf dem Kreuzberg Wein angebaut. Heute erinnert er an den Harz

Spazieren gehen ist gut zur Entwicklung der Gedanken, die im Gehen ihre Schwere verlieren. Es ist sehr wichtig, gerade im Winter zu gehen, weil beim Radfahren kriegt man ja gar nichts mehr mit, viel weniger noch in der U-Bahn.

Manche begegnen tapfer in Wanderschuhen den drohenden Mutlosigkeiten, andre laufen in Turnschuhen von ihnen fort. Es gibt depressive, rettende, aus Gründen der Disziplin unternommene, ziellose, endlose oder einfach nur ganz alltägliche Spaziergänge.

Es war noch Herbst. Wir gingen durch den Nachmittag, während die Kohlen die Wohnung warm machten. Über die Gneisenaustraße zum Mehringdamm, ein paar Meter die Methfesselstraße hoch und dann in den Victoriapark am, auf oder im Kreuzberg, dessen Geschichte eng mit dem Alkohol verbunden ist – seit dem Spätmittelalter wurde hier Wein angebaut und später dann Schultheiss. Kreuzberg und Victoriapark sind letztlich das Gleiche, und die Wege, die den Berg hinaufführen, erinnern an den Harz.

Einsam liegt ein Fußballkäfig, im Halbdunkel neben Bäumen da unten und weiter hinten die Bezirksgärtnerei. Im Bett des künstlichen Flusses, der auch im Sommer selten Wasser führt, weil die Stadt ja so pleite ist, wie man auch selber, guckt man die Möckernstraße runter und dann immer weiter und ziemlich weit hinten ist das Ende von Berlin.

Und auf der Spitze des Kreuzbergs, der 66 Meter hoch ist und seit 1821 so heißt: Das von Schinkel entworfene Denkmal zur Erinnerung an die antinapoleonischen Befreiungskriege, das Sonnendeck Kreuzbergs sozusagen. Zur Einweihung kam damals auch der spätere russische Zar Nikolaus I. Später ließ er dann den Dekabristenaufstand niederschlagen und führte 1826 „die Dritte Abteilung Seiner Majestät höchsteigener Kanzlei“, die Geheimpolizei, ein und verbannte Dostojewski nach Sibirien.

Im Winter sollte man unbedingt dessen Romane lesen. Über Deutschland schrieb er in seinen „Winteraufzeichnungen über Sommereindrücke“: „Aber die Menschen dort sind ja alle nur Besitzer oder wollen es werden! Geld ist Trumpf! Und vor allem: Sie haben ja gar nichts Gemeinsames mehr!“ DETLEF KUHLBRODT