Das Bananenkistenbuch

Ein Fund von einem Buch – und ein unaufgeregtes Geschäft nimmt seinen Lauf

Regungen der Freude über einen „echten“ Fund mussman vor Händlern verbergen

Vor etlichen Jahren war ich auf der Suche nach einem Buch, das ich für einen Aufsatz benötigte. Normalerweise findet man Bücher, die nicht mehr lieferbar sind, in Universitätsbibliotheken, diesen fabelhaften, stillen Einrichtungen, oder, wenn gar nichts geht, in der Deutschen Bibliothek. Damals aber ging lange überhaupt nichts. Es ging weder was in der Deutschen Bibliothek, noch ging was über die Fernleihe. Erst in der Berliner Humboldt-Universität wurde ich fündig.

Das Buch war einsehbar, durfte jedoch nicht kopiert werden. So ließ ich für einen Batzen Geld einige Seiten ablichten und fuhr mit einer kleinen Filmrolle in einer Pappschatulle nach Hause. Richtig genützt haben mir meine Reproauszüge damals nicht, doch hatte ich wenigstens das Gefühl, nach langer, anstrengender Recherche eine bedeutende Trophäe in Händen zu halten. Ich schrieb den Aufsatz, erwähnte das Buch aber nicht einmal im Literaturverzeichnis, wie es akademischer Usus gewesen wäre, und vergaß es daraufhin.

Vor ein paar Tagen fuhr ich mal wieder zur Frankfurter Stadt- und Universitätsbibliothek, und als ich aus dem Auto stieg, sah ich, wie die Bücherhändler auf dem alten Campus gerade dabei waren, ihre Waren in Bananenkisten zu packen, um Feierabend zu machen.

Handgemalte Schilder lockten: „Ein Buch 3 Euro“. Ich ging hinüber zu einem der bereits halb abgebauten Stände und schaute mir die unsortierten Buchrücken an: Atlanten, Krimis, Politikerbiografien, Kochbücher, dtv-, Rowohlt- und Suhrkamp-Literatur aus den Siebzigerjahren. Der Buchhändler sang ein mir unbekanntes Lied, stülpte die Pappdeckel über seine Raritäten, und ich erreichte schlendernd die letzte Kiste.

Obenauf, das Gemenge aus Remittenden und Ramsch verdeckend, lag ein dickes, großformatiges, rotweißes Buch. Es lag so da, als habe es ein gelangweilter Kunde herausgezogen, kurz angesehen und desinteressiert zurückgelegt – so desinteressiert, dass er es nicht einmal für notwendig erachtet hatte, das rotweiße, großformatige, dicke Buch zwischen die Kochbücher und Atlanten zurückzustecken.

Ich war ungläubig und froh zugleich, eine schöne Stimmung. Da lag es, fast zehn Jahre später: das Buch, mein Buch! Es lag da wie hingegossen, nein, doch wie hingelegt, und ich musste mir große Mühe geben, meine Aufregung zu verbergen. Regungen der Freude über einen „echten“ Fund muss man ja gegenüber Händlern geheim halten. „Das nehm ich“, sagte ich und reichte dem Händler drei Euro. Der Händler sah das Buch kurz an und sagte: „Ja, das geht doch so.“ – „Sicher“, sagte ich, „man kann das machen.“ – „Ja, das ist so schon nicht falsch“, sagte er und fragte: „Gibt es eigentlich Zweitausendeins noch?“

Mir war nicht klar, was er damit meinte, aber er wirkte wie jemand, für den die Buchhandels- und die Geistesgeschichte in den Siebzigerjahren geendet hatte. Es war wohl eine Reminiszenz an den linken, den aufklärerischen Buchhandel, mehr nicht. Und so beiläufig, wie ich eine sensationelle Entdeckung gemacht hatte, so nichtkapitalistisch, so unaufgeregt war das Geschäft abgewickelt worden.

Etwas ganz Ähnliches war mir schon mal im vergangenen Jahr passiert, als ich im alten Campus-Unibuchladen, einem einst hervorragend sortierten Theorie- und Literaturspeicher, für einen Spottpreis die verstaubte sechsbändige Kassettenausgabe von Eduard Fuchs’ „Illustrierter Sittengeschichte“ erworben hatte. „Das interessiert schon lange niemanden mehr“, hatte der in seinem Verschlag kauernde Buchhändler gesagt.

Nun fuhr ich, ohne noch in die Bibliothek zu gehen, sofort nach Hause und las in meinem neuen Bananenkistenbuch. Der Mensch „will mit Nahrung versorgt sein, ein Dach über dem Kopfe haben, Schutz genießen vor Frost und Hitze, Krankheit und Gefahren“, las ich auf der zweiten Seite, „er will gesund sein und glücklich leben.“ Und auf Seite 590 des Reprints von Otto Rühles „Illustrierter Kultur- und Sittengeschichte des Proletariats“ las ich, an die Adresse der Herrschenden gerichtet: „Wie sollte der Liebesschrei der sexuell Unerlösten, der Betrogenen und Verdammten an ihr Ohr und ihre Seele dringen?“

Eine Kiste kann auch eine Flaschenpost enthalten.

JÜRGEN ROTH