: Kritische Ladung
AUS KIRKUK KARIM El-GAWHARY
Man nehme eine Stadt, um die herum mehr als sechs Prozent der weltweit bekannten Ölreserven lagern, besiedle sie mit verschiedenen ethnischen Gruppen, die den Ort alle für sich beanspruchen, und pflanze in deren Mitte einen US-Militärstützpunkt: Das ist Kirkuk. Die Mischung kann explosiver kaum sein.
Von all dem ist allerdings auf der Einfallstraße von Bagdad nichts zu bemerken. Die Provinzhauptstadt im irakischen Nordosten wirkt wie eine friedliches Gemeinwesen. Keine amerikanische Militärpatrouille versperrt den Weg. Stattdessen behindert eine gelangweilte Büffelherde den Verkehr. Einzelne abenteuerlustige Tiere wechseln schon einmal vom Mittel- auf den Seitenstreifen, in der Hoffnung, dass das Gras dort saftiger schmeckt. Und anders als in Bagdad befolgen die Autofahrer einsichtig die Winkzeichen des herbeigeeilten Verkehrspolizisten. Strom, Wasser und staatliche Autorität funktionieren in der 850.000 Einwohner zählenden Stadt. Nur dass neben der ansonsten üblichen irakischen Staatsfahne vielerorts auch die grün-weiß-orange kurdische Flagge an Läden und Häusern aufgezogen ist, macht stutzig.
Die Konkurrenz der Wimpel hat einen einfachen Grund. Die Stadt ist der Kern eines politisch-geographischen Streites, der zwischen Arabern und Kurden ausgebrochen ist. Geplant ist, dem neuen Irak in der künftigen Verfassung eine föderative Struktur zu geben, in der die kurdischen Gebiete eine relative Autonomie besitzen. Kaum jemand im Irak bestreitet den kurdischen Anspruch auf die drei nördlichen Provinzen. Was aber soll mit der ethnisch geteilten Stadt Kirkuk geschehen? Gut ein Drittel Kurden und Araber leben in der Stadt, ein Fünftel wird den Turkmenen zugerechnet, den Nachkommen der einstigen osmanischen Herrscher, die im Zentrum der Stadt eine große Festung hinterlassen haben. Den Rest macht eine kleine assyrisch- und chaldäisch-christliche Minderheit aus.
Zumindest im von den Amerikanern eingesetzten gemischten Stadtrat und in der gemischten Polizei kooperieren die verschiedenen Gruppen im städtischen Tagesgeschäft. Doch der ungeklärte Status der Stadt ist für alle eine kritische Ladung und wird derzeit nicht nur in Kirkuk, sondern im ganzen Land debattiert. Die Angelegenheit wird nicht einfacher dadurch, dass in Kirkuk und Umgebung fast 40 Prozent des irakischen Erdöls lagern.
Bisher werden die verschiedenen Ansprüche meist friedlich verfolgt. „Kirkuk ist für alle“-Demonstrationen oder „Kirkuk ist kurdisch“-Veranstaltungen sind an der Tagesordnung. Nur manchmal geraten die Dinge außer Kontrolle. Etwa, als sich am Neujahrstag eine Gruppe bewaffneter Männer in eine proarabische Demonstration mischte und es kurz darauf zu einer Schießerei vor dem Büro der Patriotischen Front Kurdistans kam. Wer angefangen hat, ist bis heute nicht geklärt. Vier Menschen kamen ums Leben, über zwanzig wurden verletzt. Immerhin, die staatlichen Dienstleistungen funktionierten noch unparteiisch. Kurdische Krankenwagen transportierten arabische Opfer ab, während arabische Polizisten arabische bewaffnete Männer verfolgten – und umgekehrt.
Im Moment ist der kurdische Bürgermeister der Stadt Abdel Rahman Mustafa Fattah darauf bedacht, nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen. „Als Bürgermeister warte ich auf eine Entscheidung der Menschen in Kirkuk, die auf einem Kompromiss basieren sollte“, sagt der Anwalt vorsichtig diplomatisch in seinem Büro im Rathaus, das einer Festung gleicht. Wie das allerdings vonstatten gehen soll, lässt er offen. Kirkuk sei niemals Teil eines kurdischen Distrikts seit Schaffung des Irak gewesen, argumentieren die Araber und werfen den Kurden vor, sie wollten nur ihre guten Beziehungen zu den USA ausnutzen, um den Status der Stadt in ihrem Sinne zu verändern. Die Kurden halten dagegen, dass die Hälfte der Stadtbevölkerung bei einer Volkszählung vor fast 50 Jahren kurdisch war.
Tatsächlich hat Saddam Hussein die Stadt brutal arabisieren lassen. Zehntausende Kurden wurden vertrieben. Wer blieb, dem wurde das Leben schwer gemacht. So durfte beispielsweise kein Land oder Haus mehr an einen Nichtaraber verkauft werden. Nun fordern die Kurden die Rückkehr der Vertriebenen. Die zugezogenen Araber sollen wieder dahin gehen, wo sie hergekommen sind, also in die ärmlichen Landstriche im Süden. Wenn die Erbschaft Saddams korrigiert ist, sagen sie, soll in einem Referendum über den Status der Stadt abgestimmt werden.
Ahmad Abdel Wahab Amin ist einer von denen, mit dem die Kurden versuchen, die einstigen demographischen Verhältnisse in der Stadt wiederherzustellen. Der 47-jährige Kurde wurde vor drei Jahren aus Kirkuk vertrieben. Zunächst verhaftete ihn Saddams Geheimdienst. Als er wieder freigelassen wurde, war der Lastwagen mit seinem wenigen Hab und Gut bereits gepackt. Amin flüchtete mit seiner fünfköpfigen Familie ins nördliche Suleimanija, jenen Teil Iraks, in dem die Kurden bereits die letzten zehn Jahre autonom und außerhalb des Einflussbereiches Saddams lebten. Dort wartete er in einem Zelt auf bessere Zeiten und ein Haus. „Wir sind fast zu Ungläubigen geworden, weil wir dachten, nicht nur Gott, sondern auch Saddam stirbt nie“, sagt er.
Mit dem Sturz des Diktators war es dann endlich so weit, dachte Amin und machte sich vor zwei Monaten auf den Weg nach Kirkuk, jener Stadt, in der bereits zu osmanischen Zeiten seine Urgroßeltern lebten. Doch sein einstiges Haus steht nicht mehr. Nun haust er mit seiner Familie in einer Zeltstadt am Rande Kirkuks und teilt das Schicksal von 45 weiteren Familien. Ironischerweise haben die meisten hier Arbeit auf dem Bau gefunden, ohne selbst ein Dach über dem Kopf zu haben. „Ich habe mein Leben unter Saddam verloren, aber jetzt hoffe ich, wenigstens für meinen Nachwuchs eine kurdische Zukunft in Kirkuk aufbauen zu können“, sagt Amin und deutet auf eine Gruppe Kinder, die zwischen den Zelten versucht, einen kleinen Papierdrachen im eisigen Wind steigen zu lassen.
Immerhin ein paar Dinge haben sich im Lager verbessert. Eine reiche kurdische Familie hat ein paar Lastwagenladungen mit Schotter gespendet, seitdem versinkt das Lager wenigstens nicht bei jedem Regenguss im Schlamm. Für den Strom wurden illegal Straßenlaternen angezapft. „Ansonsten hat die Stadtverwaltung uns vergessen, und auch von den kurdischen Parteien hat sich bisher niemand hier blicken lassen“, erzählt Amin. Für ihn besteht keinerlei Zweifel daran, dass Kirkuk in einem föderativen Irak den kurdischen Gebieten zugeschlagen werden muss. Das wäre die beste Garantie, dort wieder in ein Haus einzuziehen.
Und was erwartet er von den Amerikanern? Er zeigt auf sein Gesicht. „Die sind mein Augapfel, schließlich haben sie uns von Saddam befreit, und das einzige, was mich an diesem Tag traurig stimmte, war, dass meine Eltern diesen Tag nicht mehr erleben konnten.“ Allerdings: Die Amerikaner hätten ihre eigenen Interessen und müssten sich auch mit Bagdad und den benachbarten Staaten wie der Türkei arrangieren. Für die wäre ein kurdisches Kirkuk nicht akzeptabel, erklärt Amin. „Wir sind so oft von einer Schlange gebissen worden, dass ich heute selbst einem leblosen Seil nicht traue“, fasst er sein Misstrauen gegenüber den ausländischen Mächten in Worte.
Ein paar Kilometer entfernt befindet sich ein Lager ganz anderer Art. Die 173. US-Luftlandeeinheit hat auf dem Flughafen von Kirkuk ihr weiträumig abgesperrtes Hauptquartier aufgeschlagen. Das Lager ist so riesig, dass es eine gute Viertelstunde dauert, um in einem Militärjeep auf holpriger, mit riesigen Pfützen übersäten Straße vom gut gesicherten Haupteingang bis zu Major Douglas Vincent vorzustoßen. Bis zu 4.000 Soldaten tun hier ihren Dienst inmitten der strategisch wichtigen Ölfelder und der umstrittenen Stadt. „An einem Ort von vitalem strategischem Interesse mit einer ungeduldigen Gemeinschaft“, wie Major Vincent es beschreibt. Der Presseoffizier hält hier seit sieben Monaten die Stellung. Er erinnert sich noch gut an die ersten Wochen, in denen die US-Soldaten immer wieder direkt eingreifen mussten, wenn Kurden ihre einstigen Häuser mit Gewalt beziehen wollten. Seitdem hat sich viel geändert. Es gibt eine über 2.000 Köpfe starke irakische Polizei und Zivilverteidigung, und der Kampf um die Eigentumsrechte wird zumindest vorläufig vor den lokalen irakischen Gerichten ausgetragen. Die US-Armee wird nur noch selten in die Streitigkeiten mit einbezogen.
Major Vincent sieht die US-Soldaten als „stabilisierende Kraft, an deren Schulter sich alle hier im Prozess der langsamen Demokratisierung lehnen können“, und versucht neutral zu bleiben. „Wir unterstützen keine Entarabisierung Kirkuks.“ Bisher seien auch nur wenige Kurden zurückgekommen. Doch das „zerbrechliche Konstrukt Kirkuk“ könnte ihnen jederzeit um die Ohren fliegen. Nicht nur die Diskussion über das föderative Kurdistan und dessen Grenzen, auch die Forderung nach Wahlen können sich als Problem erweisen – und die Amerikaner sich eines Tages möglicherweise wünschen, in das Wespennest nie hineingestochen zu haben. Allein die Erstellung der Wählerlisten hat das Potenzial, dass die Lage vollkommen außer Kontrolle gerät. „Das wird eine große politische Schlacht“, prophezeit Major Vincent.
Wie lange die US-Armee hier im Nordirak bleibt, ist eine Frage, die über seinen Kopf weg entschieden wird. „Wir bauen unsere Verteidigungsstellungen stetig aus“, ist das einzige, was der Offizier dazu sagen kann. Die lange Schlange mit Lkws vor dem Haupttor mit mobilen Wohnbaracken und riesigen Kabeltrommeln sowie die vielen Baustellen überall auf der Basis sprechen ihre eigene Sprache.
Captain David Mulack, ebenfalls Presseoffizier, zuckt mit den Schultern: „Ich kann mir US-Zivilverwalter Paul Bremer anhören, wenn er sagt, wie lange wir bleiben wollen, dann höre ich den Schiitenführer Ajatollah Sistani, der erklärt, wie lange wir bleiben sollen, und zwischendrin vernehme ich, was US-Vizeverteidigungsminister Paul Wolfowitz dazu meint“, sagt der Offizier. „Ich weiß nur eins. Dass ich ich Gott sei Dank in weniger als zwei Monaten hier abgelöst werde.“