Wohltemperierter Wahnsinn

Sympathie für den genialen Verlierer: Harald Bergmanns beeindruckender Hölderlin-Film „Scardanelli“

Mit der großen deutschen Dichtung ist es ja so: Die einen finden Goethe und Lessing gut, die anderen Karl Philipp Moritz, Kleist und Hölderlin; die einen bevorzugen die pausbäckig gesunden, ausgeglichenen Sieger, die anderen die eher Genialischen, die oft verarmt, in Selbstmord oder Wahnsinn endeten. Erstere führen ein wohltemperiertes Leben, Letztere machen einen Hölderlinfilm nach dem anderen.

Wobei das auch wieder übertrieben ist: Von den neun Filmen, die Harald Bergmann seit 89 gedreht hat, beschäftigen sich lediglich drei und ein kurzer – zum Aufwärmen quasi – mit dem berühmten Dichter, der 1770 geboren wurde, viel wanderte, immer wieder scheiterte, sich da und dort als Hauslehrer durchschlug und die letzten 40 Jahre seines Lebens – bis 1843 – beim Schreinermeister Zimmer in Tübingen umnachtet dahindämmerte. Während sich die ersten zwei Filme seiner Hölderlin-Trilogie – „Lyrische Suite/Das untergehende Vaterland“ und „Hölderlin Comics“ – mit der ersten Lebenshälfte und den Texten beschäftigten, die der große Dichter bis zu seinem Abtransport in die Klinik im September 1806 schrieb, geht es in „Scardanelli“ um den Rest, die Zeit seiner Umnachtung, über die Robert Walser, dem Ähnliches widerfuhr, mal schrieb: „Ich bin überzeugt, dass Hölderlin gar nicht so unglücklich war, wie es die Literaturprofessoren ausmalen. In einem bescheidenen Winkel dahinträumen zu können, ohne beständig Ansprüche erfüllen zu müssen, ist bestimmt kein Martyrium. Die Leute machen nur eins draus.“

„Scardanelli“ hat verschiedene Ebenen. Auf einer Spielfilmebene wandert der Dichter (André Wilms) in Farbe durchs Gebirge und bekommt während der Rast an einem Fluss von seinem Begleiter einen Stein auf den Kopf gehauen, auf einer anderen, in Schwarzweiss gedrehten Ebene, lebt er leicht verwahrlost in seinem Hölderlinturm, ab und zu kommen Besucher, denen er auf dem Klavier etwas vorspielt oder für die er Gedichte verfasst, die er mit dem Namen „Scardanelli“ unterzeichnet.

Auf der nächsten Ebene erzählen meist ältere schwäbische Herrschaften in sonnenbeschienenen Wohnzimmern von ihren Begegnungen mit dem Dichter oder berichten von der Obduktion, die ergebab, dass irgendwas auf sein Gehirn gedrückt haben muss. Auf der übernächsten, etwas theatralischen Ebene, trägt Hölderlin stets eine seltsame Maske. Des Weiteren sieht man, wie sich Gedichte in seiner Originalhandschrift schreiben oder – und das ist wirklich schön – Naturlandschaften ganz langsam zu Bleistiftzeichnungen werden. Dazu gibt es viel Musik von Franz Schubert, Wolfgang Amadeus Mozart und Johann Sebastian Bach.

Vermutlich, so denkt man sich während der 112 Minuten, wurde der Regisseur von Jean-Marie Straub beeinflusst, der auch beim ersten Teil der Trilogie mitwirkte. Er scheut nicht das Disparate und versteckt nicht das Gemachte. Allerdings hat man oft das Gefühl des Zuviels; zu viele Ebenen, zu viel Musik, zu viele Dinge hat der Hölderlin-Enthusiast in seinen schönen Film gesteckt, und fast jedes gesprochene Gedicht mit Musik zu unterlegen scheint keine wirklich gute Idee gewesen zu sein. Vielleicht wäre es auch angemessener gewesen, wenn „Scardanelli“ eine Stunde mehr Zeit gehabt hätte.

Übrigens: „Auch eine Blume ist schön, weil sie blühet unter der Sonne. Es findet das Aug’ oft im Leben Wesen, die viel schöner noch zu nennen wären, als die Blumen“ (Hölderlin).

DETLEF KUHLBRODT

„Scardanelli“. R. Harald Bergmann, 112 Min., D 2000. Termine s. Programm