Wegwerfen, weggeworfen werden

Heutzutage muss man es mit den Besten aufnehmen, obwohl es schon schwer genug ist, bei sehr kleinen Partys, etwa Geburtstagspartys, eingelassen zu werden oder ein Taxi zu finden: eine Geschichte aus der Generation der Dreißigjährigen

von FELIX BRANDHORST

Es ist kalt. Ich stehe in einen Hinterhof und rufe einen Namen. Aus dem halb offenen Balkonfenster ist eben jemand herausgekommen und hat mich glatt übersehen. Lehnt sich übers Geländer, guckt in meine Richtung, schnappt sich ein Bier und geht wieder rein. Ich habe ihn deutlich gesehen, er muss mich doch auch gesehen haben. Früher beim Versteckspielen glaubte man so was. Das bleibt hängen. Man glaubte tatsächlich, dass einen jeder sehen müsse, den man selbst sah. Man kniff die Augen feste zusammen, aber durch einen ganz schmalen Schlitz blinzelte man weiter, einfach aus der heimlichen Lust daran, gefunden zu werden. Selbst wenn man die Hände noch vors Gesicht presste, blinzelte man weiter. Man wollte ja nicht im Versteck vergessen werden, wenn das Spiel längst vorbei war. Deshalb rufe ich jetzt. Ich rufe, bis er zurückkommt, und der Erfolg lässt nicht lange auf sich warten, man lässt mich rein.

Geburtstage über der Dreißiger-Marke sind keine Publikumsmagneten. Zehn Leute sind wir, sitzen auf Polstern und auf dem Boden, ans Regal gelehnt oder im Schneidersitz. An den Wänden hängt eine einheitliche Reihe von Grafiken zu irgendeiner Bauhaus-Ausstellung, es wird jazzlastiger House abgespielt und regelmäßig gelüftet. Neben mir sitzt Jenny von der Alm am Laptop und chattet. Es ist witzig, sagte sie, während sie Profile studiert, die ihr zugeschickt werden, Menschen einfach wegzuwerfen. Genauso sagt sie es: Es ist witzig, Menschen einfach wegzuwerfen, aber natürlich viel süßer. Ihr eigenes Profil scheint so reizvoll zu sein, dass partout jeder im Chatroom von ihr gefunden werden will. Sie wird mit Profilen geradezu bombardiert und gibt der kleinen Runde freimütig Details preis: verspielter Typ mit Hang zu strengen Formen, sportlicher Einzelgänger ohne Berührungsängste, Halbblut mit definiertem Schwanz.

Sie selbst ist jünger als alle anderen auf der Party, vielleicht mit Ausnahme von Brian aus London, den sie mitgebracht hat, und ihre Gesichtshaut glänzt sexy. Am liebsten wäre ihr einer aus Bayern, sagt sie, er müsste ja nicht dort wohnen, ein Bayer in Berlin vielleicht. Ich biete ihr Markus an, den einzigen, den ich kenne. Charmant lehnt sie ab und redet lieber darüber, wie großartig die Berge sind und wie frisch und zupackend die Menschen dort. Sie spricht mit dem ganzen Raum. Die Vorzüge ihres Freistaats vereinigen sich in ihrer ganzen Erscheinung. Mit dem I-Book im Schoß und dem Weizenglas in der Hand sieht sie aus wie eine Bavaria-Skulptur von Koons, während sie uns was erzählt und in ihrem rosa Kleidchen herumzappelt. Ich gehe in die Küche und esse indische Linsensuppe, scharf.

Später, ich sitze etwas versteckt an der Seitenlehne vom Sofa, setzt sie sich zu mir auf den Boden. Ich frage sie, warum sie nicht in den Bergen geblieben sei, wenn es ihr dort so gut gefällt, und meine es nicht böse. Sie versteht das und sagt, dass sie ihre Heimat zwar wirklich liebe, aber nach Berlin gezogen sei, um auf bessere Zeiten zu warten. In Berlin könne man gut warten, fügt sie hinzu. Jenny ist Touristik-Kauffrau und hat gerade zusammen mit Brian in einem Ferienclub auf Ibiza für die sportliche Animation gesorgt. Sie sagt, sie habe den Eindruck, dass die Türen allesamt verschlossen seien. Sie wolle in Berlin abwarten, bis die Zeit für einen richtigen Job im Büro gekommen sei und die Türen von allein aufgingen, simsalabim.

Ich bekunde, wie Recht sie damit habe, und erfinde die Geschichte, dass bei einer Zeitung, für die ich angeblich als freier Mitarbeiter tätig bin, momentan kaum eines meiner Feuilletons genommen wird. Ich sage es so, als wäre das schon mal ganz anders gewesen, in einer goldenen Vergangenheit, in der ständig irgendwelche Feuilletons von mir in der Zeitung standen. Ich berichte weiter, dass mein Redakteur jeden Tag Sachen von ganz renommierten Leuten angeboten bekäme, die früher bei der Süddeutschen oder der FAZ gewesen wären. Selbst die sind jetzt arbeitslos, behaupte ich. Wir werden uns einig, dass man es zurzeit mit den Besten aufnehmen muss, und eine ganz behagliche Atmosphäre steigt auf. Ich glaube, wir könnten uns in diesem Moment knuffen oder der Initiative der glücklichen Arbeitslosen beitreten. „Es herrscht Gründerstimmung“, das habe ich noch zu ihr gesagt, bevor sie gemeinsam mit Brian verschwunden ist, „wir warten, bis wir gefunden werden“.

Ich habe das wirklich ernst gemeint, und Jenny versteht solche Sätze. Sätze, die man überhaupt nur dann fehlerfrei aussprechen kann, wenn man wirklich glaubt, was man da sagt. So, als würde man behaupten, man sieht die Objektivität der Kunst als das heilige Herz Jesu an. Wenn man es fehlerfrei ausspricht, nimmt einem das jeder ab. Wir warten, bis wir gefunden werden. Wir erstellen ein Wunschprofil und lassen uns suchen.

Am Ende des Abends bestelle ich ein Taxi, verabschiede mich und gehe los. Beide Flügeltüren der Einfahrt im Vorderhaus stehen offen, auf der Straße sehe ich das Taxi langsam vorrollen. Ich laufe darauf zu, zeige mit gestrecktem Arm meinen Fahrtanspruch an und stehe bereits auf der Straße, als der Taxifahrer, sich geistesabwesend ein letztes Mal umblickend, davonbraust. Ich denke, dass dieses Versteckspiel jetzt endlich aufhören könnte, und schnüre die Kapuze fester gegen den Wind, bis ich so vermummt bin, dass ich bloß noch durch einen kleinen Schlitz blinzele. Schließlich kann grundsätzlich nur derjenige gefunden werden, der sich anständig versteckt, denke ich trotzig und warte auf ein zweites Taxi.