Arbeit am Chaos

Akram Khan, Choreograf aus London, ist ein typischer Vertreter von Immigranten der dritten Generation. Er hat es geschafft, den indischen Kathak mit der westlichen Moderne zu verbinden

von FRANZ ANTON CRAMER

Seine Mutter ist an allem schuld. Sie kämpft in der indischen Immigrantengemeinde Englands für die Wahrung kultureller Identität. Von ihrem Sohn Akram, Mitte der Siebzigerjahre als britischer Staatsbürger geboren, verlangte sie deshalb, dass er „die Traditionen seiner Vorfahren“ erlernt. Also erhielt Akram Unterricht im ehrwürdigen Tanzstil Kathak und ging jahrelang beim berühmten Meister Guru Sri Pratap Pawar in die Lehre. Gleichzeitig bewunderte er aber auch Michael Jackson.

Khan ist ein typischer Vertreter der dritten Immigrantengeneration. Seine Familie erwartete von ihm eine anständige Berufswahl: Arzt, Anwalt, Ingenieur. Aber einmal vom Tanzvirus infiziert, mochte Khan nicht mehr nach mittelständischen Idealen leben. Als Kompromiss studierte er Tanz an der Northern School of Contemporary Dance in Leeds, um wenigstens einen echten Hochschulabschluss vorzuweisen.

Die Begegnung mit dem zeitgenössischen westlichen Tanz entschied Akrams weitere Zukunft. „Die Verwirrung in meinem Körper wurde so groß, dass ich beschloss, dem auf den Grund zu gehen. Oft wusste ich nicht mehr, welche Bewegung oder welchen Stil ich warum ausführte. Mein Körper war irgendwie selbstständig geworden. Es sind neue Formen entstanden, mit denen ich mich seither beschäftige.“

Das allerdings sehr erfolgreich. Nach Engagements bei Peter Brook gewann er 1999 den angesehenen Choreografie-Preis der Jerwood Foundation, ein Jahr später hatte ihn Anne Teresa de Keersmaeker nach Brüssel engagiert. Seit 2001 ist Khan Choreographer in Residence an der Londoner Royal Festival Hall. Mittlerweile zählt die Akram Khan Company zu den gefragtesten Ensembles weltweit. Ihr Stil setzt sich aus rasanten, manchmal ekstatischen, im Ursprung religiös motivierten Bewegungen zusammen: „Im Kathak halte ich immer Zwiesprache mit den Göttern“, sagt Khan, „aber das ist für den Zuschauer unwichtig.“

Dazu kommen choreografische Kompositionsprinzipien der westlichen Postmoderne, diese Mischung scheint überall zu funktionieren. „Normalerweise passen europäischer und amerikanischer Geschmack nicht zusammen. Mit uns ist das anders. Wir touren sehr erfolgreich in beiden Regionen – und auch sonst überall !“ Wichtiger aber noch ist ihm: „Sogar in Indien steht die Kulturszene mir sehr aufgeschlossen gegenüber. Mein verehrter Lehrer hat meinen Stil verstanden und die Kathak-Elemente im Neuen ‚gesehen‘. Anscheinend haben wir also tatsächlich etwas Universelles gefunden“, sagt Khan und lacht.

Während des Gesprächs auf der Hinterbühne des Düsseldorfer „Tanzhaus NRW“ – dort war jetzt die 2002 entstandene Arbeit „Kaash“ erstmals in Deutschland zu sehen – lässt die Lichtregie eine Stunde vor der Vorstellung noch einmal alle Stimmungen durchlaufen. Khans fein gegliedertes, rundes Gesicht, dessen Blick keine Unruhe kennt, verändert sich in dem gelben, roten oder bläulichen Farbrausch, der später sein einstündiges Stück strukturiert. Als es einen Moment lang völlig dunkel ist, spricht er seelenruhig weiter. Diese Verbindung aus unbeirrbarer Intensität und konzentrierter Leichtigkeit prägt auch „Kaash“, zu Deutsch „Wenn“.

Die enorm komplexen Bewegungsmuster und rhythmischen Gliederungen, die geometrische Anordnung des Ensembles zu spiegelgleichen Reihen, die sich fortwährend auflösen und neu finden, die wie abgelöst vom Rumpf peitschenden Arme und bis in die Fingergelenke hinein dynamischen Gesten, die wirbelnd-taumelnden Drehungen auf der Ferse statt dem Ballen, all das erzeugt einen berauschenden, überwältigenden Sog.

„Die Grundenergie des Kathak ist das Chaos. Es geht darum, in dieses Chaos Klarheit zu bringen. Dann wird daraus Tanz“, erklärt Khan. Entsprechend hat auch der Titel des Stücks für ihn mehr als eine Bedeutung: „ ‚Wenn‘ steht für die Bedingung, damit etwas sein kann. Aber es ist ein absolut wichtiges Element in der hinduistischen Lehre, dass manches einfach unwiderruflich und bedingungslos ist. ‚Kaash‘ steht für die Schwierigkeit, damit umzugehen, für die unklaren Momente, für den Übergang, das Unentschiedene. Davon handelt unser Stück und überhaupt mein Tanz. Er überwindet das Chaos, indem er sich hineinstürzt.“

Akram Khan wird vom 23. bis zum 25. April mit seinem neuen Soloprogramm „Ronin“ im Berliner Podewil gastieren