: Emphase in der Provinz
Ein unverstandener Allesversteher: Jamal Tuschick entwirft in seinem neuen Roman „Bis ans Ende der B-Seite“ ein provinzielles Kasseler Panorama mit asozialem Einschlag
Tauschen möchte man nicht. Einiges erinnert einen vielleicht an die eigene Sozialisation. Allerdings nicht in dieser schonungslosen Selbstdarstellung eines konsequent Zweitklassigen. Ein Vorbild jagt das nächste. An keinem kann er sich messen. Also verlegt er sich aufs Räsonieren.
Ein Sympathieträger ist die Hauptfigur in Jamal Tuschicks Roman „Bis zum Ende der B-Seite“ wahrlich nicht. Unauffällig und glanzlos, unangepasst nur, weil er den Anschluss verpasst hat. Ein reizvoller Ich-Erzähler aber, weil zu kurz Gekommene mitunter eine sehr realistische Betrachtung der Welt leisten
Tuschick, Jahrgang 1961, lässt ihn in seinem neuen Roman anlässlich eines Familienfestes die letzten dreißig Jahre Revue passieren. „Bis ans Ende der B-Seite“ zeigt ein provinzielles Kasseler Panorama mit asozialem Einschlag. Es setzt Hiebe und seelische Grausamkeiten, nur bleibt der Ich-Erzähler davon unberührt. Ein Grund für diese fehlende Emphase ist der Zwillingsbruder. Der wächst bei den Großeltern in reichem Milieu auf und ist mit entsprechender Grandezza und „zasterschwerer Bräsigkeit“ ausgestattet.
Diese Brüder-Konstruktion ist günstig und glaubwürdig. Tuschick hält sie durch, aber auszuhalten ist das schwer. Eine eigentümliche Mischung: bildungsbürgerliche Überheblichkeit durch selbst verschuldete Isolation sowie Einsamkeit aus Verzweiflung und eingebildeter Lyrik. Und immer wieder so ein rundumschlagendes Allesverstehen und Übersehen der eigenen Lage. Er weiß es besser. Er ist nicht stolz, aber borniert und weiß das auch.
Dabei hätte dieses Buch vom Inventar her ein schöner Poproman werden können. Die Beschreibungen des kleinbürgerlich-proletarischen Milieus oder der Möchtegernboheme in den Siebzigerjahren zeichnen den Autor als hellsichtigen und kritischen Chronisten aus. In wenigen Sätzen gelingen Tuschick wunderbare Kurzcharakterisierungen. Vor dem Fortschritt versprechenden Einkaufszentrum der Siedlung lässt der selbst ernannte Lord mit einer Marc-Bolan-Frisur seine Groupies aufwarten. Ein anderer Szenefürst fasziniert durch das richtige Timing sowohl beim Tischfußball wie beim Sex. Solches Imponiergehabe ermüdet aber irgendwann. Schließlich stößt der Erzähler zu einer Clique älterer Leute, „die in absichtlicher Metropolenferne auf Hochkultur machten“.
Die konsequente Ablehnung jeglicher Lebensentwürfe grenzt schon ans Krankhafte. Sie gründet nicht auf der Stärke, Klischees zu widerstehen, sondern auf der Angst, eingeordnet werden zu können. Wenn das Ganze nicht so eingebildet daherkäme, würde man darüber lachen. So aber heißt es: Zähne zusammen und abwarten, wie die „jugendliche Untüchtigkeit zu vergrübelter Übellaunigkeit“ wird. Man weiß es ja: Bis zum Ende der B-Seite steht alles fest. Also ändert sich nichts, nur die Ratlosigkeit wächst. Denn, so lautet ein schöner Satz, „man kennt die Worte lange vor ihrer Bedeutung“.
Ein wenig mehr Schmackes, und das Buch hätte schön ätzend werden können. Das aber ist es nicht. Es ist zu konsequent in der Erfüllung der Charakterzüge seines Helden. Zaungast, Stellvertreter, unverstandener Allesversteher. Wer Lust hat, sich für 185 Seiten zu ihm auf seinen so konstruierten Zaun zu setzen, vollführt beim Lesen von „Bis zum Ende der B-Seite“ die Entkräftung dieser Position. Denn man sitzt dort doch sehr traulich und versteht ihn ganz gut.
GUSTAV MECHLENBURG
Jamal Tuschick: „Bis zum Ende der B-Seite“. Edition Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003, 185 S., 9 €