Judenhass hat Konjunktur
Experten warnen vor einer neuen Dimension des Antisemitismus in der EU – und Außenminister Fischer will eine neue Politik gegenüber Israel
AUS BERLIN PHILIPP GESSLER
Die New Yorker bringen es in ihrer trocken-sarkastischen Art auf den Punkt: „Anti-Semitism is hating the jews more than necessary.“ Es war der Soziologe Natan Sznaider aus Tel Aviv, der diese Beschreibung von Judenfeindlichkeit auf der Konferenz „Antisemitismus heute“ in Berlin zum Besten gab – mit der Bemerkung, diese Definition von Judenhass gefalle ihm eigentlich am besten.
Zugleich traf Sznaider damit das Hauptproblem der internationalen Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung, die gestern zu Ende ging: Was ist eigentlich Antisemitismus? Wann wird aus Kritik an Israel Antisemitismus? Und: Gibt es einen „neuen Antisemitismus“ in Europa? Das Thema ist en vogue, spätestens seit einer Studie der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC) in Wien. Der umstrittene Report – Untersuchungszeitraum: erstes Halbjahr 2002 – war zunächst hartnäckig unter Verschluss gehalten worden. Als er dann im Dezember doch erschien, war sein Inhalt alarmierend. Es gebe, so hieß es darin, „eindeutig einen Zuwachs antisemitischer Aktivitäten seit der Eskalation des Nahostkonflikts im Jahr 2000, mit einem Höhepunkt im Frühling 2002“.
Fast zeitgleich warf Israels Ministerpräsident Ariel Scharon Europa „kollektiven Antisemitismus“ vor. Der Jüdische Weltkongress hat der EU-Kommission kürzlich ebenfalls Judenfeindlichkeit bescheinigt – worauf die EU ein Seminar zum selben Thema empört aussetzte. Am 19. Februar soll es nun doch stattfinden, Joschka Fischer ist voraussichtlich dabei. Der deutsche Außenminister ist es auch, der für Ende April zu einer OSZE-Konferenz gegen Antisemitismus in die deutsche Hauptstadt eingeladen hat. Besser konnte die Konferenz der Böll-Stiftung also gar nicht terminiert sein.
Der Andrang zur Tagung war enorm, für viele Interessenten fand sich kein Platz mehr. Dafür kam Fischer, der zunächst als Redner nicht vorgesehen war. Die Bundesrepublik hat selbst ein massives Antisemitismus-Problem: Im Jahr 2002 hat die Zahl der antisemitischen Straftaten um etwa fünfzig Prozent zugenommen. Erstmals seit einem halben Jahrhundert stelle die Wissenschaft eine Zunahme antisemitischer Einstellungen in der deutschen Bevölkerung fest, erklärte Werner Bergmann vom Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung.
Schon am ersten Tag der Konferenz in den Ministergärten in Berlin, gleich neben dem im Bau befindlichen Holocaust-Mahnmal, stellte sich erstmals die Frage, die die ganze Konferenz beschäftigte: Was ist wirklich „neu“ am „neuen Antisemitismus“ in Europa? Einigkeit bestand unter den Experten aus Frankreich, Belgien, Großbritannien, Polen, Deutschland und Israel darin, dass neue Phänomene auf dem Alten Kontinent zu beobachten sind: Der europäische Antisemitismus wird ganz offensichtlich durch den Nahostkonflikt zwischen Israel und Palästinensern angeheizt – hinter Israelkritik oder Antizionismus verbirgt sich oft die uralte Fratze abendländischer Judenfeindlichkeit. In fast allen EU-Ländern gibt es, wie auch die EUMC-Studie feststellte, seit Beginn der Zweiten Intifada im Herbst 2000 vermehrt Übergriffe muslimischer Einwanderer auf Juden. Die Solidarität der Globalisierungskritiker mit den Palästinensern hat gelegentlich eine antisemitische Schlagseite, die schon zu heftigen Diskussionen bei Attac und seinem Umfeld geführt hat.
Zugleich zeigten die Diskussionen zu einzelnen Ländern Europas jedoch auch, wie unterschiedlich die Entwicklungen sind. So forderte der Oxforder Philosophieprofessor Brian Klug, Gründungsmitglied einer jüdischen Menschenrechtsorganisation, eindringlich, klar zwischen Antizionismus und Antisemitismus zu unterscheiden: „Wenn wir nicht verstehen, warum wir angegriffen werden, werden wir uns nicht gut verteidigen können.“
Alarmistischer, auch aggressiver dagegen die Diskussion im „deutschen Panel“. Antisemitismusforscher Bergmann diagnostizierte, in Deutschland erodiere die Tabuisierung des Antisemitismus. Vor allem der Judenhass vieler muslimischer Einwanderer elektrisierte die hiesigen Fachleute. Eberhard Seidel, Geschäftsführer von „Schule ohne Rassismus“, erinnerte daran, dass etwa 40.000 von 3,3 Millionen Muslimen in Deutschland islamistischen und häufig antisemitisch geprägten Gruppen angehören. Damit sei ihr Organisationsgrad zwanzigmal höher als der der deutschen Neonazis. Einig waren sich die Deutschen darin, dass das Problem „muslimischer Antisemitismus“ in Deutschland zu lange vernachlässigt wurde.
In der Diskussion über die Lage in Frankreich überwog ebenfalls die Sorge wegen der nicht geglückten Integration der Zuwanderer aus muslimischen Staaten. Antisemitismus, befördert durch Hetzmedien aus der arabischen Welt, sei auch Ausdruck eines sozialen Versagens der französischen Gesellschaft, so die Nahost-Expertin und Autorin Anne-Elisabeth Moutet. Im Kampf für das Kopftuchtragen wie in antisemitischer Propaganda äußere sich die gleiche islamistische „Offensive“. Ganz anders dagegen die Diskussion in Polen: Hier wird Antisemitismus in erster Linie vor dem Hintergrund der national-katholischen Mehrheitsidentität interpretiert. „Es gibt keinen neuen Antisemitismus“, resümierte die Kulturwissenschaftlerin Agnieszka Pufelska, „nur der vorhandene wird entlarvt.“
So unterschiedlich also die Phänome des Antisemitismus in den einzelnen Ländern Europas sind – unbestritten blieb, dass die EU dieses Problem stärker diskutieren muss. Und, darauf machte Joschka Fischer schon am ersten Tag aufmerksam: Wenn das Problem des „neuen Antisemitismus“ mit Israel zu tun habe, müsse die EU ihr Verhältnis zu Israel ändern, und zwar auf der Grundlage, dass Israels Existenzrecht außer Frage stehe. „So einfach ist das“, sagte der Außenminister.