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Archiv-Artikel

Der Büßerpreis und die langlebige Bombe

Auf der Buchmesse Leipzig ging die Verleihung des Deutschen Bücherpreises in diesem Jahr besser über die Bühne als im vorigen. Vielleicht wird der Preis sogar eines Tages wirklich wichtig und bedeutend? Die Beliebtheit von Leipzig und seinen vielen Veranstaltungen bei den Besuchern scheint groß genug

Es braucht keine fünf Minuten an diesem frühen Donnerstagabend, und schon werden bei der Verleihung des Bücherpreises im Leipziger Kongresszentrum die je nach Gusto schönsten oder schlimmsten Erinnerungen wach. Da steht als erster Laudator der Schauspieler Jan Josef Liefers auf der Bühne, unrasiert, ein wenig aufgequollen und mit unordentlich sitzendem Hemd, und hält seine Rede auf die drei für den Deutschsprachigen Belletristikpreis nominierten Autoren. „Da hängt die Latte hoch mit den eigenen Gedanken“, beginnt Liefers und müht sich scheinbar endlos, seine Leseerfahrungen mit den Büchern von Doris Dörrie, Petra Hammerfahr und Hans-Ulrich Treichel zu beschreiben. Im Festsaal fragt man sich in diesem Moment: Ist es tatsächlich möglich, dass diese Bücherpreisverleihung genauso grandios in die Hose geht wie die letztjährige?

Damals hatten der Börsenverein und die Leipziger Buchmesse den Deutschen Bücherpreis ins Leben gerufen und den MDR beauftragt, der Verleihung einen würdigen Rahmen in Form einer Fernsehgala zu schaffen – auf dass die Literatur und das Lesen von Büchern noch populärer und glamouröser würden. Nur war die Show mit Leuten wie Nino de Angelo, Marie-Louise Marjahn und Frank Elstner eine einzige Katastrophe – kaum ein Autor, der froh war, einen Preis in Form des von Günter Grass modellierten Butts zu bekommen. Bei Christa Wolf und Günter de Bruyn zum Beispiel soll er noch heute im Kofferraum ihrer Autos herumliegen.

Immerhin weist die lange, wirre Rede von Jan Josef Liefers darauf hin, wohin die Reise 2003 geht: Wort auf, Show runter, zumal dieses Mal das MDR-Kulturressort für die Ausrichtung der Gala verantwortlich ist. Alles weitere geht dann auch fast solide-langweilig über die Bühne Die kurzen Filme zu den jeweils nominierten Büchern lassen sich gut anschauen, die kennt man von ihrer Machart von Kultursendungen wie „Aspekte“ oder „Titel Thesen Temperamente“; in Hildegard Hamm-Brücher (für Peter Merseburger und sein Willy-Brandt-Buch), Jutta Limbach (für Peter Härtling und sein Lebenswerk), Ranga Yogeshwar (für Katja Kullmanns „Generation Ally“) und dem allerdings nervös und steif wirkenden Florian Illies (für das beste Debüt) hat man gar richtig gute bis ordentliche Laudatoren gefunden; und die musikalischen Auftritte von Wolfgang Niedecken, J. J. Liefers (s. o.) und Angelika Milster stören nicht weiter.

Auch Moderator Axel Bulthaupt, der sich neulich erst durch den deutschen Grand Prix dilettierte, tritt als Moderator wohltuend wenig in Erscheinung, macht kurze Ansagen und weiß selbst zum Irakkrieg mahnende Sätze: „Literatur kann keinen Krieg verhindern, aber Anstöße geben.“ Überhaupt der Krieg: Natürlich unterlässt es niemand, sein Missfallen oder seine Trauer darüber zu bekunden. Katja Kullmann geht gar so weit zu sagen, „richtig froh“ zu sein in einem Land zu leben, dessen Regierung so klare und deutliche Worte gegen den Krieg gefunden habe.

Als schließlich Peter Härtling seinen Lebenswerk-Butt erhält und noch einmal von der Sprachlosigkeit spricht, die jetzt regiere („Wer spricht, geht auf den anderen zu, wer schweigt, schlägt dem anderen in Gesicht“), wird alles richtig gut: Man hat zwei Stunden lang ein paar schöne, tragende Worte gehört, und man hat sich gegenseitig der Bedeutung und Schönheit von Büchern und Literatur versichert. Der „Büßerpreis“, wie sich Florian Illies einmal schön verspricht, ist doch ein richtiger Bücherpreis. Vielleicht wird er eines Tages wirklich wichtig und bedeutend; vielleicht ist es irgendwann wirklich erstrebenswert für jeden Autor und jede Schriftstellerin, einen Butt zu bekommen.

GERRIT BARTELS

Man braucht die lichtdurchflutete Glashalle der Leipziger Messe nur zu betreten und prompt wird man mit der Nase darauf gestoßen: Diese Buchmesse ist eine Lesemesse. Viele Leipziger Schulklassen haben einen Tag frei bekommen und sind geschlossen zur Messe gefahren. Schlapp hängen sie auf den Treppen herum. Sie packen ihre vollen Hochglanztüten aus und sortieren die magere Beute: Prospekte und billige Gimmicks, Feuerzeuge, Aufkleber und eingeschweißte Gummibärchen, die man an den Ständen geschenkt bekommt. Eigentlich hatten sie ja vorgehabt, ein paar Bücher zu klauen, jetzt kaufen sie aber doch lieber nur ein paar Postkarten von Janosch oder Diddl, die es am Eingang gibt. Eine trägt ein „No War“-Schild um den Hals, scheint sich aber im Moment mehr für ihre lahmen Füße zu interessieren. Und für die Leute: Sie guckt allen hinterher, die schick angezogen sind, zieht die Schultern hoch und tauscht mit ihren Freundinnen ratlose Blicke: War das vielleicht?

Leipzig ist anders als Frankfurt. Während die, die Wichtiges zu tun haben und etwas auf sich halten, die Frankfurter Buchmesse fluchtartig verlassen, sobald sie fürs Publikum geöffnet wird, lassen hier die Fachbesucher Milde walten. Geschäfte werden in Leipzig eh keine gemacht, Arroganz ist nicht angesagt, irgendwie finden es alle lustig, miteinander ins Gespräch zu kommen. Leser müssen schließlich umworben werden: An allen Ecken und Enden sieht man Autoren lesen, es gibt drei „Foren der Autoren“, im „Berliner Zimmer“ und auf dem „Blauen Sofa“ ist den ganzen Tag etwas los, für Kinder gibt es „Lesebuden“ und viele Mitmachstände in den Comic-Hallen. Und wer abends immer noch nicht genug hat, der kann auch eine der zahlreichen Lesungen im Rahmen von „Leipzig liest“ besuchen – kaum eine Kneipe in der Stadt, in der man sich an diesem Wochenende der Literatur entziehen könnte.

Viele Mütter mit Kinderwägen, ganze Familien und ältere Ehepaare sieht man tagsüber durch die Hallen wackeln. Oft machen sie lange Hälse und spähen nach ihren Stars, immerhin ist in diesem Jahr damit zu rechnen, dass sich Doris Dörrie und Henning Mankell unter die Leute mischen, Günter Grass und Alice Schwarzer sind auch wieder da, Tatjana Tolstaja, eine Enkelin oder Urenkelin Tolstois, und auch viele Ostler, die die Erinnerung ans Leseland DDR am Leben halten: Christoph Hein, Jurij Brezan und Angelica Domröse zum Beispiel. Spricht man eine der älteren Damen mit den wild bestickten Strickjacken und extravaganten Brillengestellen an, so hört man genau das, was man erwartet: Sie kommen aus Göttingen, Paderborn und Köln, sind extra angereist, eine Woche oder so. Ein älteres Ehepaar sagt: „Wir sind schon seit vier Jahren dabei.“ Früher sind sie Lehrer gewesen und ein paar Erstausgaben zum Signieren haben sie auch immer im Gepäck.

Ein älteres Freundinnenpaar, das vergnügt von einer gut besuchten Lesung Judith Hermanns kommt, sprudelt fast über vor Mitteilungsdrang: „Wir sind schon zum zweiten Mal in Leipzig. Hier kann man es aushalten, die Atmosphäre gefällt uns gut, die Luft ist besser als auf anderen Messen. Auch abends gehen wir immer noch auf Lesungen.“ – „In welchen Berufen haben Sie denn früher gearbeitet?“ – „ Ich war in der Juristerei, meine Freundin war selbstständige Buchhändlerin.“ – „Und waren Sie auch mal auf der Frankfurter Buchmesse?“ – „In Frankfurt habe ich lange gelebt, die Stadt ist hässlich und die Messe dort nur was fürs Business. Frankfurt ist passé.“ Vielleicht hat sie Recht. Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, wenn die Frankfurter Messe umziehen, sich damit neu erfinden müsste und der Leipziger Messe etwas ähnlicher würde.

SUSANNE MESSMER

Bombenalarm, aber kurz vor Leipzig. Können intelligente Waffen so irren? Die kurze Ansage ist keine Antwort: „Dieser Zug fährt nicht mehr über Leipzig-Hauptbahnhof.“ Haben arabische Terroristen ausgerechnet hier auf den Tag X gewartet? Oder doch nur so ein Verrückter …?

Wir sind genervt, nicht besorgt. Diese doofen Amerikaner, die einen mit ihrem Krieg nur aufhalten. Da kann auf der Buchmesse auch ein good guy nicht begeistern: Gleich auf dem Podium in der Eingangshalle versucht der US-Journalist Mark Hertsgaard zu erklären, dass die US- Bürger eigentlich nett und freiheitsliebend seien, aber leider Pech mit ihren Regierungen hätten. Wer hat Bush dann nur gewählt, möchte man fragen.

Ein paar Messehallen weiter bildet sich eine Schlange, obwohl dort keine Bücher stehen. Aber Monitore: Sie übertragen unscharfe Bilder von Staubwolken im Irak, es sind offizielle Bilder, freigegeben von der US-Regierung. Gleich darauf folgten das „Briefing“ durch Rummy Rumsfeld und Erklärungen von Militärexperten, die hier keiner kennt. Niemand sagt etwas. Man kommt und geht. Zur nächsten Schlange.

Die Schulklassen auf Buchmessenausflug interessieren sich vor allem für Manga-Comics und die Verlosung der TOM-Uhr bei der taz. Einige belagern auch den Stand der Bundeswehr, die auf einem gigantischen Areal Flagge zeigt. Sie präsentiert jedoch keine Bücher, sondern ein Gesellschaftsspiel namens „Weltpolitik greifbar“. Die Regeln wirken so unverständlich wie die der internationalen Diplomatie. Supernette Jugendoffiziere erklären den Schülern, wie sie Politiker verschiedener Weltregionen darzustellen haben. Sie sollen zum Wohle ihrer Bürger handeln, aufrüsten und Konferenzen veranstalten. Klar scheint nur: Am Ende gewinnen die Amerikaner. Vielleicht erhält der Sieger ja eine Freifahrt in einem Fuchsspürpanzer in Kuwait. Drei junge Brüder wollen nach Bagdad. Sie verkaufen regenbogenfarbene Fahnen mit einem „PACE“ drauf. Für 10 Euro kann jeder seinen Friedenswillen demonstrieren und den Brüdern eine Reise finanzieren, damit sie sich als menschliche Schutzschilde vor die Iraker stellen können. Man kann nur hoffen, dass sie ihr Geld erst zusammen haben, wenn der Krieg vorbei ist.

Auf dem Podium in der Eingangshalle geht es am späten Nachmitttag immer noch um die Glaubwürdigkeit der Amerikaner. Statt über seinen Erziehungsratgeber zu sprechen, muss der Journalist Christian Nürnberger nun raten, wie sich der Nahe Osten nach dem Krieg entwickeln wird. Wir alle sind eben mittlerweile Experten für Weltpolitik.

Ach ja, die Bombe. Die gab George W. Bush Recht. Schließlich hat er gesagt, dass der Krieg lange dauern werde. Die Bombe war aus dem Zweiten Weltkrieg und konnte erst jetzt, fast 60 Jahre später, entschärft werden.

DANIEL HAUFLER