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Archiv-Artikel

Die Bildung der Leidenschaften

Welchen Stellenwert hat Filmerziehung an der Schule? Beim Berliner Kongress „Schule macht Kino“ ging es auch um die Frage, ob der bildungsbürgerliche Dünkel gegenüber allem Visuellen in deutschen Lehrplänen einen Schlupfwinkel gefunden hat

von CRISTINA NORD

Mitte der Achtzigerjahre an einem nordhessischen Gymnasium. Der Leistungskurs Deutsch liest Heinrich Manns „Professor Unrat“ und schaut „Der blaue Engel“ auf Video. Die Lehrerin weiß wenig über das Kino der Weimarer Republik, wenig über Marlene Dietrich und über Josef von Sternberg. Aber sie weiß viel über die Manns und über den Professor Raat, diesen „Tyrannen mit schlechtem Gewissen, der in den Falten der Mäntel nach Dolchen späht“. Deswegen ist ihr Urteil schnell gefällt: Der Roman ist große Kunst. Der Film dagegen geht zwar eben noch in Ordnung. Er verschwendet aber an Marlene Dietrichs Erscheinung, was dem Buch Tiefe und zeitdiagnostische Schärfe verleiht.

Zu einem ähnlichen, wenngleich härteren Schluss kamen schon die zeitgenössischen Kritiker. „Mann sah sich verstanden und approbierte Sternbergs Version, während deutsche Kritiker eine Kulturschande darin sahen, dass das tragische Geschick des Professors zweitrangig geworden war über dem Aufstieg der Neuen; sie meinten, das Kino hätte sich an der Literatur vergriffen“, notierte die Kritikerin Frieda Grafe im Dezember 2001. Die Neue, das war Marlene Dierich, die als Lola Lola den Niedergang des Professors herbeiführte und langbeinig ihrem Ruhm entgegeneilte.

Hat sich etwas geändert, seit ich 1985 im Klassenzimmer Bekanntschaft mit Lola Lola machte? Offenbar nicht viel. Das legen die Vorträge und Diskussionsbeiträge derjenigen nahe, die Ende letzter Woche in Berlin an dem Kongress „Kino macht Schule“ teilnahmen. Eingeladen dazu hatten die Bundeszentrale für politische Bildung und die Filmförderungsanstalt; Anlass ist ein Missstand. Ob und was Kinder und Jugendliche über Film lernen, hängt hierzulande vom guten Willen der Lehrer ab. Länder wie Frankreich, Großbritannien oder Schweden hingegen haben Filmerziehung in ihren Lehrplänen verankert.

Zwar existieren zahlreiche Initiativen, die Schüler für den Film begeistern wollen. Schulkinos gibt es in verschiedenen Städten, etwa in Dresden und Münster. Seit dem vergangenen Jahr finden unter dem Motto „Lernort Kino“ bundesweite Schulfilmwochen statt. Das Max-Ophüls-Festival in Saarbrücken hat eine Schülerjury, und das in Köln ansässige Institut für Kino und Filmkultur gibt Materialsammlungen für Lehrer heraus. Wer mit seiner Klasse Spike Lees „Do the right thing“ oder Wolfgang Beckers „Good Bye, Lenin“ schauen möchte, findet in den Heften Informationen für die Vor- und Nachbereitung. Vereinbar mit den Stundenplänen ist von all dem jedoch wenig, verbindlich nichts. Schlimmer noch: Der bildungsbürgerliche Dünkel gegenüber dem Visuellen hat, darin sind sich viele der Kongressteilnehmer einig, an den Schulen einen Schlupfwinkel gefunden; aus den Ergebnissen der Pisa-Studie bezieht er neue Nahrung. Da ist es fast eine Kampfansage, wenn Knut Nevermann in Vertretung von Staatsministerin Christina Weiss sagt: „Deutschland leidet an einer Filmleseschwäche.“

Wie ist die zu beheben? Der Vorschlag, Film wie Musik oder Kunst als eigenständiges Fach in die Curricula aufzunehmen, hat die wenigsten Freunde: zu unrealistisch. Stattdessen soll Filmerziehung fächerübergreifend stattfinden. Spätestens hier beginnt der Dissens. Soll es reichen, wenn die Schüler lernen, „die Codes bewegter Bilder zu dechiffrieren“, wie es in der Abschlusserklärung heißt? Wenn sie dadurch jene „Medienkompetenz“ gewinnen, die während des Kongresses – gerade im Zeichen der fragwürdigen Fernsehbilder aus Bagdad – so oft beschworen wurde? Film wäre dann ein Mittel zum Zweck. Durch seine Analyse ließe sich trainieren, wie man CNN guckt, ohne sich einlullen zu lassen. Oder soll Film dazu dienen, einen Gegenstand zu veranschaulichen? „Das Leben ist schön“ im Geschichtsunterricht? „Black Box BRD“ im Politikunterricht? „Jurassic Park“ im Biologieunterricht? Auch das hieße, Film auf eine Funktion zu reduzieren.

Für jemanden wie Eric Briat vom nationalen Filmzentrum in Paris kommt das nicht in Frage. An französischen Schulen ist die Filmerziehung Pflicht. Jeder Schüler geht mindestens dreimal im Jahr mit seiner Klasse ins Kino. Was er sieht, wird im Unterricht vor- und nachbereitet. Das müssen nicht immer die Lehrer tun; Filmemacher, -historiker oder -kritiker sind willkommene Gäste an den Schulen. Für Briat steht nicht zur Debatte, dass es dabei um den Film an sich geht statt um illustrative Zwecke. Und noch etwas anderes ist klar: „Natürlich spreche ich nicht von kommerziellen, US- amerikanischen Mainstream-Filmen.“

In Berlin brauchen die Redner auf dem Podium lange, bis sie von Filmgeschichte und Filmkunst sprechen. Wer aus der Branche kommt, betont lieber das „Ereignis Kino“, die Emotionen, die man nicht zerreden dürfe, das Gemeinschaftserlebnis im Multiplex. „Kino ist das Größte“, schwärmt Klaus Keil vom Filmboard Berlin-Brandenburg. Elke Esser, die Geschäftsführerin des Multiplex-Verbandes Cineropa e. V., findet: „Es hat Sinn, neben Arthouse- und Mainstream-Filmen auch über extreme Mainstream- Filme zu reden.“

Lehrer, so heißt es oft während dieses Kongresses, argwöhnen, dass es der Branche um Kundenakquise gehe, wenn sie sich für die Filmerziehung stark mache. Möglicherweise haben sie damit Recht. Was nicht heißen soll, dass man aus dem umgekehrten Reflex heraus Pasolini oder Fassbinder, Ozu oder Godard zur Pflicht macht. Denn damit wäre weder den Schülern noch den Filmen geholfen. Realistischer ist, was Knut Nevermann in Christina Weiss’ Namen formuliert: „Akzeptanz und Einübung einer medialen Mehrsprachigkeit“ sei das Lernziel, darüber hinaus die Bildung des Herzens. Das mag altmodisch klingen, ist aber ein schöner Gedanke, insofern er die éducation sentimentale, die viele Filmfiguren durchleben, mit der der jugendlichen Zuschauer zum Gleichlauf bringt.

Eine weitere Sorge der Lehrer gründet darin, dass die Schüler ihnen auf dem Feld der visuellen Kultur einiges voraushaben. Jugendliche, die das Internet nutzen, MTV gucken und in Computerspielen versiert sind, begreifen Baz Luhrmans „Romeo + Juliet“ möglicherweise besser als die Englischlehrerin, so gut sie Shakespeares Stücke auch kennen mag. Sie verstehen mehr von „Jackass“ als um ihr Wohl und gesellschaftliche Werte besorgte Pädagogen. Sie können die Zeichen lesen, aus denen sich „8 Mile“ zusammensetzt; ihr Musiklehrer kann es vermutlich nicht.

Dieses Dilemma ist nicht neu. Schon der Held von „Professor Unrat“ ist damit konfrontiert, dass er seinen Vorsprung gegenüber den Schülern zwar mit aller Macht und Despotie behauptet, dabei aber stets fürchten muss, ihn preiszugeben oder, schlimmer noch, schon preisgegeben zu haben.

Natürlich tritt dann, im Film wie im Roman, genau das Befürchtete ein. Der Professor macht sich vor seinen Schülern zum Affen. Damit es den zukünftigen Filmerziehern anders ergeht, sollten sie etwas mitbringen: Leidenschaft für den Film.