: Eine wird gewinnen
Im Jahr 2010 wird die „Kulturhauptstadt Europas“ turnusgemäß wieder eine deutsche Stadt sein. Sechzehn Städte sind nun mitten in der heißen Phase, denn am 31. März endet die Bewerbungsfrist
VON KLAUS IRLER
Die Disziplin heißt Kultur, und es herrscht sportlicher Ehrgeiz im Land. Ehrgeiz, der auch schon mal übers Ziel hinausschießt: In Braunschweig beispielsweise wies das dortige Klinikum seine Mitarbeiter an, gegen späteren Freizeitausgleich Überstunden zu machen, um sich durch wiederholtes Anrufen an einer TED-Umfrage des NDR-Fernsehens zu beteiligen.
Die Umfrage sollte herausfinden, ob sich eher Braunschweig oder Osnabrück als europäische Kulturhauptstadt eigne. Braunschweig gewann den Contest mit 88 Prozent. Es blieben ein kleiner Skandal, von dem die örtliche Presse intensiv berichtete, und eine hitzige Debatte im Rat der Stadt zum Thema Lokalpatriotismus.
In Augsburg dagegen führt der Kulturehrgeiz zur Einheit qua kollektiver Grenzerfahrung: Auf Initiative des Bürgerprojekts „Bündnis für Augsburg“ traf man sich zu einer 33,5-stündigen Stadtführung. Denn 33,5 Stunden sind exakt 2.010 Minuten, und 2.010 ist die Zahl, die derzeit 16 deutsche Kandidaten auf Trab hält: Im Jahr 2010 wird der Titel Kulturhauptstadt Europas wieder an eine deutsche Stadt vergeben. So sieht es der Turnus vor, den Rat und Parlament der EU 1999 festlegten.
Ebenfalls im Jahr 1999 gab es mit Weimar zum letzten Mal eine deutsche Stadt, die das Prädikat Kulturhauptstadt Europas innehatte. Weimar hatte damals kaum Konkurrenten bei der Bewerbung um den Titel, diesmal aber ist der Andrang enorm: Neben Augsburg und Braunschweig arbeiten Görlitz, Bremen, Köln, Potsdam, Bamberg, Regensburg, Kassel, Lübeck, Osnabrück, Münster, Karlsruhe, Dessau/Wittenberg (als Tandem) und Halle an einer Bewerbung. Zudem geht das Ruhrgebiet als Region ins Rennen, offiziell vertreten durch die Stadt Essen.
Und alle stecken derzeit mitten in der heißen Phase: Ende März 2004 müssen die Bewerbungskonzepte abgegeben werden. Während Regensburg und Halle relativ kurzfristig beschlossen haben, überhaupt mitzumachen, gibt es in anderen Städten bereits eigens eingerichtete Geschäftsstellen und Bewerbungsintendanten. Der Bremer Senat beispielsweise hat Martin Heller, den künstlerischen Leiter der Schweiz-Expo 02, engagiert und macht zwei Millionen Euro für die Bewerbungsphase locker. In Köln stehen trotz leerer Kassen 250.000 Euro für die Bewerbung zur Verfügung, weitere Mittel sollen bei privaten Geldgebern akquiriert werden. Potsdam leistet sich als Anschubfinanzierung zunächst 300.000 Euro – und das alles, obwohl gilt: Selbst wenn es klappt, selbst wenn der Zuschlag von der EU kommt, fließen aus Brüssel Fördermittel in Höhe von maximal einer Million Euro. Eine vergleichsweise geringe Summe also – aber um die geht es auch gar nicht im Kulturhauptstadt-Poker.
„Kulturhauptstadt“, das verheißt vielmehr einen Quantensprung in Sachen Stadtmarketing und Strukturwandel: Wirtschafts- und Tourismusverbände verweisen auf eine deutlich erhöhte Medienpräsenz, die Besucher und damit Geld in die Stadt ziehen soll. Insbesondere strukturschwache Städte sehen hier eine Chance, sich im Zeichen der Kultur neu zu erfinden: Für Bremens Stadtväter war das Hauptargument für die Bewerbung, dem hoch verschuldeten Stadtstaat mit Kultur als „Motor der Stadtentwicklung“ auf die Beine zu helfen. Und im bayerischen Kultusministerium, so sagte der zuständigen Abteilungsleiter Toni Schmid der Nürnberger Zeitung, wolle man diejenige bayerische Stadt bei der Bewerbung unterstützen, die es „am nötigsten hat“.
Gesundbrunnen Kulturhauptstadt? Kann gut sein: Aus der letztjährigen Kulturhauptstadt Graz vermeldet der Fremdenverkehrsverband eine Steigerung der Übernachtungszahlen um knapp 23 Prozent, und in Salamanca, Europas Kulturhauptstadt 2002, baute man 23 Hotels, ein neues Theater und eine Mehrzweckhalle, um letztlich knapp zwei Millionen Kulturtouristen bei rund tausend Veranstaltungen zu begrüßen. Bei Weimar aber scheint die Kur Kulturhauptstadt nicht angeschlagen zu haben: Die 63.000-Einwohner-Stadt ist mit 103 Millionen verschuldet und schloss vergangenen September aus Finanznot ihr Stadtmuseum – dieses war erst 1999 zum Kulturhauptstadtjahr für rund sechs Millionen Euro saniert worden. Zudem plant Weimar, aus der Mitfinanzierung der Stiftung Weimarer Klassik nach 2006 und des Kunstfestes nach 2005 auszusteigen.
So kann es also im Nachgang aussehen – im Vorfeld ist die Hoffnung auf einen kräftigen Schub im Kulturhaushalt trotzdem berechtigt: Im Ruhrgebiet etwa will man bei einem Zuschlag Investitionen in Höhe von 50 bis 75 Millionen Euro tätigen. Und profitieren dürfte die Kultur in den Bewerberstädten schon allein von dem Entschluss zu einer Bewerbung: Kultur bekommt einen anderen Stellenwert auf der politischen Agenda, und etwaige Kürzungen werden schwerer durchzusetzen ein.
Ein Argument, das bis Ende 2005 ins Feld geführt werden kann. Dann erst fällt die Entscheidung. Und bis dahin erwartet die Aspiranten einige Lobbyarbeit, denn bis zum Siegertreppchen muss eine Bewerbung drei Nadelöhre passieren: das Land, den Bundesrat und den EU-Ministerrat. In der ersten Runde entscheidet das jeweilige Bundesland, ob es die Bewerbung über das Auswärtige Amt weitergibt an den Bundesrat. Der Bundesrat hat dann zu entscheiden, welche Städte an die EU gemeldet werden. Die letztendliche Entscheidung verkündet der EU-Ministerrat auf Empfehlung der Kommission.
Vor allem beim innerdeutschen Verfahren sind derzeit noch viele Fragen offen – zum Leidwesen der Städte. Um das Verfahren transparenter zu machen, fordert eine Arbeitsgruppe der Bewerberstädte, dem Bundesrat zur Entscheidungsfindung eine Jury aus Kulturfachleuten zur Seite zu stellen. Gleichzeitig tendieren einige Kulturressorts der Länder dazu, nur eine Stadt an den Bundesrat weiterzumelden – diese dafür ausgestattet mit voller Unterstützung aller Landespolitiker. Für die Städte bedeutet das, dass einige bereits in der ersten Runde auf der Strecke bleiben werden, und das sorgt für Kritik: Schließlich, so argumentiert Bettina Heinrich vom Deutschen Städtetag, sei die Kulturhauptstadt Europas eine europäische Initiative – und keine, bei der Entscheidungen bereits auf Länder- oder Bundesebene gefällt werden sollten.
Die EU soll also mitreden – und das tut sie auch. Kürzlich brachte man in Brüssel einen Beschlussvorschlag auf den Weg, demzufolge allen Kulturhauptstädten ab 2009 eine Partnerin aus den EU-Beitrittsstaaten an die Seite gestellt werden soll. 2010 wären demnach Deutschland und Ungarn liiert. Im deutschen Bewerberfeld hat aber nur Bamberg eine ungarische Partnerstadt – und die verspricht mit ihren 28.000 EinwohnerInnen nur sehr überschaubare Hauptstadtqualitäten.