Höhere Gewaltgründe

In seinem neuen Buch begründet der Philosoph Michael Walzer, warum die humanitäre Intervention gegen Slobodan Milošević gerecht war und der Präventivschlag gegen Saddam Hussein es nicht ist. In den USA fand er damit kein Gehör

von CLAUS LEGGEWIE

Im Bundestag hieß es bei der letzten, hilflosen Debatte vor „Ausbruch“ dieses Krieges: Nicht pazifistische Demonstranten hätten Auschwitz befreit, sondern die US-Armee. Daran ist historisch so gut wie alles schief, aber die „idealistischen Interventionisten“ in den USA argumentieren ähnlich. In seiner Kriegserklärung malte George W. Bush intensiv die Befreiung des irakischen Volkes aus. Ja, er lässt seine Soldaten präventiv und mit breiter Unterstützung gegen einen Diktator zu Felde. Ganz so war es 1941 nicht. Amerika zog spät, zögerlich und gegen große Widerstände in der eigenen Bevölkerung in den Krieg, und es kämpfte gegen die faschistischen Achsenmächte, weil es angegriffen worden war – nicht, um die bedrohten europäischen Juden zu retten.

Ein Bezug auf die nationalsozialistischen Verbrechen ist jenen durchaus geläufig, die heute in Berlin vehement gegen den Krieg sind. Hatte es beim Golfkrieg 1991, auch aus dem Munde Helmut Kohls, noch geheißen, Deutschland könne „wegen Auschwitz“ nicht an einem noch so gerechten Krieg teilnehmen, drehte sich die Argumentation im Falle Kosovo um: Gerade „wegen Auschwitz“ dürften Deutsche dem Völkermord nicht tatenlos zuschauen.

Solche Argumente sind Beispiele für höhere Begründungen eines „gerechten Krieges“, jenseits der egoistischen Interessen realpolitisch agierender Mächte – und jenseits des Völkerrechts, das gerade mit dem amerikanisch-britischen Präventivschlag zur Makulatur erklärt wird.

Doch: Die im christlichen Mittelalter entwickelte Lehre vom gerechten Krieg leidet grundsätzlich daran, dass man kaum ein universal gültiges Maß für Gerechtigkeit finden wird. Sie stellt lediglich militärische Konflikte nicht mehr ins Ermessen eines machthungrigen Herrschers, auch wenn der durch die Massen legitimiert ist. Nur gute Gründe rechtfertigen einen gerechten Krieg, und nur eine legitime Autorität darf eine gerechte Sache mit rechter Absicht ausfechten. Das ist das exakte Gegenteil vom „heiligen Krieg“ und zur Begrenzung des Krieges gedacht. Die Lehre richtet sich also gegen dessen faktische Entgrenzung, bei der im 19. und 20. Jahrhundert die Verhältnismäßigkeit der Mittel und die „Nebenfolgen“ für Zivilisten völlig außer Kontrolle geraten sind.

Die Lehre vom gerechten Krieg wurde gleichwohl aus dem intellektuellen Diskurs verabschiedet – erst von einer realistischen Denkschule, die Nationalstaaten das Recht gab, Kriege zu führen, und nach 1945 von einer internationalen Ordnung, die darauf gerichtet war, Kriege möglichst ganz auszuschließen oder unter das Mandat der Vereinten Nationen zu stellen. Die Gerechtigkeitsfrage behält aber ihren Stachel – gegen den gesinnungsethischen Pazifismus, da sie im extremen Fall Gründe ein militärisches Eingreifen befürwortet, und gegen eine jede Macht, die nur tut, was sie für richtig hält, ohne dafür gute Gründe zu haben.

In diesem Sinne rechtfertigt die Politik Saddam Husseins nicht den kapitalen Bruch des Völkerrechts durch die USA, nicht die brutale Torpedierung von westlicher Allianz oder Europäischer Union. Und sie erlaubt erst recht nicht die vermeintlichen „Kollateralgewinne“ (Jeffrey Gedmin), die Propagandisten des Krieges gegen die Opfer unter der irakischen Bevölkerung aufrechnen.

Welche Unterschiede es zwischen der humanitären Intervention gegen Slobodan Milošević und dem Präventivschlag gegen Saddam Hussein und andere gibt, begründet das jüngste Buch des New Yorker Sozialphilosophen Michael Walzer. Er hat aus der Erfahrung des Vietnamkriegs die Lehre vom gerechten Krieg rehabilitiert (dt.: „Gibt es einen gerechten Krieg?“, Stuttgart 1982), und zwar als kritisches Korrektiv gegen Pazifisten wie Bellizisten. Sein neues Buch ist eine Sammlung ungleich gut ausgearbeiteter (und übersetzter) Aufsätze aus dem Zeitraum zwischen 1995 und 2002. Herausgegeben und mit einem instruktiven Nachwort versehen wurde es von Otto Kallscheuer, der Walzer in Deutschland bekannt gemacht hat.

Nach dem elften September befürwortet Walzer den Krieg gegen die Taliban und klagt über die verharmlosende Haltung europäischer Intellektueller zum Terror. Aber wie die Mehrheit amerikanischer Akademiker und Intellektueller hält er wenig von einem Präventivschlag gegen den Irak ohne UN-Mandat. Den amerikanischen Mainstream hat er damit nicht beeindruckt. Vergeblich schlug Walzer in der New York Times noch kurz vor der Offensive vor, Frankreich, Russland und Deutschland für den „kleinen Krieg“ ins Boot zu holen – das sind: Ausdehnung der Flugverbotszonen und der Sanktionen sowie mehr UNO-Inspektoren und Luftüberwachung, um den „großen Krieg“ zu vermeiden.

Walzer wendet die in seinen Augen „siegreiche“ Lehre vom gerechten Krieg auf die schwierigen Fälle Irak, Jugoslawien und Palästina/Israel an. Er zeigt dabei, wie auch bei prinzipieller Befürwortung humanitärer Interventionen der Teufel jeweils im Detail steckt, ein „Regimewechsel“ aber sicher nicht in das Repertoire der Legitimationsgründe für einen gerechten Krieg gehört. Damit unterscheidet sich Walzer von radikalen Kritikern des „militärischen Humanismus“ (Noam Chomsky) ebenso wie von der grundlegenden Ablehnung jedweden militärischen Vorgehens in den christlichen Kirchen. Er distanziert sich von den so genannten Realisten, die die Welt als einen Kampfplatz rivalisierender Wolfsrudel ansehen, genauso wie von den Idealisten, die nun Weltregierung spielen wollen.

Eine solche Position zwischen allen Stühlen scheint seit dem 20. März 2003 auf Resignation hinauszulaufen. Zumindest erwecken viele europäische Kritiker der Bush-Administration diesen Eindruck. Bloß eine Minderheit hofft noch in trotziger EUphorie, Europa werde in der anstehenden Krise schon noch zu Kräften und Selbstbewusstsein kommen. Dabei entbindet gerade ein rascher Triumph der Amerikaner und ihrer Koalition der Willigen Europa nicht von der geordneten Separation gegenüber den USA. Im Gegenteil: Die Durchsetzung der Pax Americana auf diesem Wege machte sie noch notwendiger.

Amerikanische Intellektuelle haben in den letzten Jahren durchweg wenig Interesse gezeigt, mit ihren deutschen Kollegen in ein wirkliches Streitgespräch einzutreten; jenseits des Atlantiks erscheint nur ein Bruchteil der deutschen oder französischen Texte in Übersetzung, während Autoren wie Chomsky und Kagan, Vidal und Gedmin, Barber, Rorty und Walzer regelmäßig bei uns zu lesen sind. Michael Walzer, der am Institute for Advanced Studies in Princeton lehrt und die Zeitschrift Dissent herausgibt, gehört zu den amerikanischen Autoren, die sich stets um einen symmetrischen Austausch bemüht haben.

Das ist wichtig für ein transatlantisches Verhältnis, das jetzt noch stärker belastet sein wird. Denn wenn Amerika keinen gerechten Krieg führt, wie aus Walzers Texten hervorgeht, dann führt es einen illegalen Angriffskrieg – und dafür kann es keinerlei Sympathie oder gar Unterstützung geben. Deutschland und Europa kommen nicht umhin, das Verhältnis zu den USA radikal zu überdenken und von der Fiktion gemeinsamer „westlicher Interessen“ Abschied zu nehmen. Zumal: Nicht das alte Europa hat die Gemeinschaft aufgekündigt, sondern ein archaisch denkendes Amerika.

„Den“ Westen gibt es nicht mehr, weder militärisch noch wirtschaftlich noch sozialpolitisch, zwischen Amerikas Mainstream und Europa verlaufen Gräben, die kaum weniger tief sind als der zwischen der europäischen und der ostasiatischen Auffassung politischer Kultur. Für die intellektuellen und akademischen Beziehungen wird das folgenreich sein.

Michael Walzer: „Erklärte Kriege – Kriegserklärungen“, aus dem Amerikanischen von Christina Goldmann, 200 Seiten, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2003, 14,80 €