: Abwägung anstatt eines Schuldbeweises
Großbritannien will die Beweispflicht abschaffen und mutmaßliche Terroristen künftig aufgrund einer Abwägung von Wahrscheinlichkeiten verurteilen. Beweismaterial von Geheimdiensten wird den Beklagten und ihren Anwälten vorenthalten
AUS DUBLIN RALF SOTSCHECK
Der britische Innenminister David Blunkett möchte die lästige Beweispflicht abschaffen. Mutmaßlichen britischen Terroristen soll man die Schuld nicht mehr zweifelsfrei nachweisen müssen, sondern sie aufgrund einer „Abwägung von Wahrscheinlichkeiten“ verurteilen können.
Darüber hinaus sollen die Indizien und Beweise, die von den Geheimdiensten geliefert werden, vor den Angeklagten und ihren Anwälten geheim gehalten werden, um die Informanten zu schützen. Überdies, so sieht Blunketts Vorschlag vor, müssen sich die Beschuldigten von „Sonderadvokaten“ verteidigen lassen. Das sind Anwälte, die von der Regierung dahingehend überprüft werden, ob man ihnen vertrauen kann, dass sie alles, was in den Geheimprozessen zur Sprache kommt, für sich behalten. Die Richter sollen sich ebenfalls einer Gesinnungsüberprüfung unterziehen müssen.
Blunkett sagte, es sei lebensnotwendig, die Informanten zu schützen, wenn Großbritannien weiter in der Lage sein soll, prophylaktische Maßnahmen gegen Selbstmordattentate zu ergreifen. Es habe keinen Sinn, damit zu drohen, Terroristen vor Gericht zu stellen, nachdem sie sich in die Luft gesprengt haben.
Viele der Vorschläge des Innenministers können bereits gegen ausländische Verdächtige angewandt werden. Aufgrund eines Gesetzes, das nach den Anschlägen vom 11. September 2001 verabschiedet worden ist, dürfen Ausländer, die des Terrorismus verdächtigt werden, ohne Anklage oder Zugang zum britischen Rechtssystem festgehalten werden, wenn man sie nicht deportieren kann, weil ihr Leben sonst in Gefahr wäre. Aufgrund des Gesetzes sind bisher 14 Männer verhaftet worden. Zwei von ihnen sind in ihre Heimatländer abgeschoben worden, die anderen sitzen im Londoner Belmarsh-Hochsicherheitsgefängnis.
Das Anti-Terrorismus-Gesetz gilt vorerst nur bis 2006, doch Blunkett will das Gesetz noch vor den Wahlen im nächsten Jahr verlängern, verschärfen und auf britische Staatsbürger erweitern. Schließlich werden Beweise in Terrorismusprozessen nicht durch herkömmliche Polizeiarbeit geliefert, sondern von den Geheimdiensten, und diese Quellen könne man nicht preisgeben, sagte Blunkett.
Er enthüllte seinen Anti-Terror-Wunschzettel gestern ausgerechnet auf einer Auslandsreise im indischen Amritsar, wo britische Truppen 1919 mehr als 400 Menschen ermordet haben. Die Opfer hatten gegen ein neues Gesetz demonstriert, das der britischen Regierung die Vollmacht zugestand, Menschen ohne Anklage ins Gefängnis zu stecken.
Blunkett ist für seine Vorschläge heftig kritisiert worden. Sie seien eine Schande, sagte die hochrangige Anwältin Baronin Kennedy und fügte hinzu: „David Blunkett hat offenbar bei Robert Mugabe Unterricht in Rechtswissenschaft genommen. Das ist eine Beleidigung für den Rechtsstaat.“
Louise Christian, Anwältin des britischen Staatsbürgers Feroz Abbasi, der von den USA im Gefangenenlager Guantánamo Bay festgehalten wird, sagte, Blunketts Einstellung sei „sehr enttäuschend“ für alle, die gegen die gesetzwidrige Inhaftierung durch die USA kämpfen. „Blunkett reist in der Welt herum und gibt extreme Erklärungen ab“, sagte sie. „Ich halte ihn für unfähig, das Amt des Innenministers zu bekleiden.“