: Krähen über dem Reichstag
So viel Wunden, so viel Schmerz: Die französische Schriftstellerin Cécile Wajsbrot hat sich für ihren Roman „Mann und Frau den Mond betrachtend“ den traurigen Blick von Caspar David Friedrich ausgeliehen und aus Berlin einen großen Friedhof gemacht. Heute Abend liest sie in der Alten Nationalgalerie
Zugegeben, die Sache ist verführerisch. Einmal in Beschreibungen der Bilder von Caspar David Friedrich schwelgen, einmal von seinen traurigen Landschaften den Blick auf die Berliner Stadtlandschaften der Gegenwart schwenken, in der sich Natur und Kultur wieder als ambivalente Symbole für Hoffnungen und Unvermögen der Politik anbieten. Cécile Wajsbrot, Autorin aus Paris, hat aus dieser metaphernreichen Verbindung der Gegenwart mit der Vergangenheit einen ganzen Roman entstehen lassen. Sieben Motive des Malers Caspar David Friedrich nimmt sie in „Mann und Frau den Mond betrachtend“ zum Anlass einer Zeitreise. Deren Eckpunkte bilden die Stimmung der Romantik, als sich das entäuschte Bürgertum über das Misslingen der politischen Utopien mit Kunst und Mythen zu trösten versuchte und die Zeit nach 1990, als in Berlin-Ost und -West die Kunst wieder der Bildung einer neuen Identität aufhelfen sollte. Heute Abend wird das Buch in der Alten Nationalgalerie zwischen den Bildern Friedrichs vorgestellt.
Zweimal Zeiten der Desillusionierung, zweimal Zeiten der Verinnerlichung. Denn am Ende wird nach innen gekehrt, was zuvor als historischer Befund beschrieben wurde. „Wir sind vor allem Gefangene unserer selbst, wir sind die schlimmsten Wärter unserer inneren Gefängnisse, sie haben die stärksten Mauern, und die Gitter, die wir für sie geschmiedet haben, sind unzerstörbar“, sagt auf der vorletzten Seite der ostdeutsche Lyriker, dem Cécile Wajsbrot die Rolle des Reiseführers durch die Geschichte übergeben hat. Seiner unerfüllten Liebe sind die letzten Kapitel gewidmet. Sie führen die historische Perspektive und die Ausprägung der eigenen Gefühle zusammen in den sehnsuchtsvollen Landschaften Friedrichs. Sie weisen den Hang zum Schmerz als notorisch aus und beschreiben, was bis dahin noch als Leiden an deutschen Verhältnissen interpretierbar war, schließlich als Rechtfertigung für persönliches Versagen.
In Frankreich wurde Wajsbrots Roman hoch gelobt, in der FAZ erschien er im Februar als Vorabdruck, und der Tagesspiegel widmete der Autorin, die seit einem Jahr auch in Berlin eine Wohnung hat, ein Porträt. So viel Wunden der Geschichte, so viel Schmerz, das trifft ein pathetisches Deutschlandbild, wie es auch in der Kunst von Anselm Kiefer gegenwärtig ist.
Dennoch: Der Nerv, den Cécile Wajsbrot berührt, ist zu kunstvoll geflochten, zu reich an Zitaten der Kunstgeschichte und der Gedenkkultur. Interessant ist das Buch trotzdem: Denn während zurzeit in Filmen wie „Good bye, Lenin“ von Wolfgang Becker oder Romanen wie „Zonenkinder“ von Jana Hensel die DDR noch einmal aus ihrem Geschmack, Geruch und ihren Farben erfunden wird, hält sich die Autorin aus Frankreich an ein ganz anderes Material. Sie nimmt wörtlich, was die nach 1990 in Berlin entstandene Gedenkkultur über das Leben in der geteilten Stadt aussagt; sie erfindet aus den musealen Zeugnissen der Geschichte, wie sie sich das Leben hier vorstellte. Tja, und das – die Profession der Vergangenheitssicherer möge dieses Buch lesen –, das mündet nicht selten in trostlose Klischees. Zu groß ist die Dichte der Symbole in ihrer Wahrnehmung, keine Krähe taucht oft, ohne in dunkler Bedeutung über den Reichstag zu fliegen. Friedhöfe bilden in der Vergangenheit des Lyrikers die entscheidenden Orte: um Hölderlin zu lesen, sich von Freunden zu verabschieden, sich unglücklich zu verlieben. Als ob unter dem Blick der Staatssicherheitsorgane der DDR Friedhöfe den letzten Hafen der Subversion gebildet hätten. Ein Land voller Grufties.
„Wir sind die unfreiwilligen Zeugen, der abgewandte Blick unserer Eltern und Großeltern zwingt uns, ständig darauf zu starren, er hypnotisiert uns, wir betrachten einen Zeitpunkt, einen historischen Abschnitt, von dem wir nicht züruckgekehrt sind.“ Geschichte wird zur Besessenheit. Für Cécile Wajsbrot ist diese Haltung, in der sie ihren Lyriker situiert, auch eine Leistung, eine Geste der Anstrengung. Von ihrer eigenen Familie polnischer Abstammung wurden Mitglieder während des Holocaust umgebracht. Aber das ändert nichts an der Überkodierung ihrer Bilder. Die Geschichte ist in ihnen hypertroph und lässt eine Wahrnehmung der Gegenwart kaum zu. KATRIN BETTINA MÜLLER
Cécile Wajsbrot: „Mann und Frau den Mond betrachtend“. Liebeskind, München 2003, 144 S., 16 € Lesung heute, 20 Uhr, Caspar-David-Friedrich-Saal, Alte Nationalgalerie